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ILLUSION SPEZIAL

■ Zirkus Fliegenpilz auf dem Lenne-Dreieck

Mein Freund Rainer wollte immer schon Kameramann werden. Sein Freund Bodo wollte immer schon Zirkusdirektor werden. Natürlich hat niemand daran geglaubt. Sie traten mit ihrem selbstgebastelten Mini-Zirkus in der Fußgängerzone auf. Bodo führte die Figuren; Rainer machte Fotos.

Nachdem Bodo seine Lehre abgebrochen hat, sehen sie sich jahrelang nicht. Als sie sich wiedertreffen, ist der eine Kameramann und der andere, Bodo Hölscher, Direktor vom Zirkus Fliegenpilz. Das ist jetzt zehn Jahre her.

Lenne-Dreieck zwischen M-Bahn und Mauer. Noch Niemandsland. Doch wenn man über den niedrigen weißen Zaun blickt oder auf rotem Teppich den schmalen Durchlaß überquert, da, wo der rotlivrierte Doorman steht, dann könnten die Bilder der Jetzt-Zeit durchaus in Fettlende verschwimmen - die Musik des Stehgeigers jedenfalls verhallt auf dem Platz. Sonst ist alles still. Nachmittag, erster Spieltag.

Kinder spielen zwischen alten, restaurierten Zirkuswagen, auf einem steht „Zirkusschule“, für die, wie ich erfahre, derzeit dringend ein Lehrer gesucht wird (Info beim Zirkus), zwei alte Holzwagen sind als Cafe hergerichtet, in den übrigen wird gewohnt. Kein einziger LKW trotz 50 Mitarbeitern. Alles ist schön, aber nicht protzig - und vor allem leicht.

Das kleine rot-weiße Zelt knallt, und zum erstenmal nach langen Jahren betritt die Rezensentin aus freien Stücken einen Zirkus, weilt in einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Loge und genießt das auch noch.

Kein einsamer, trauriger Clown, keine Elefanten mit geketteten Füßen, keine Freiheitspferde, die rechnen. Statt dessen Schweine, Ziegen, Tauben und die einzige Puma-Dressur der Welt. Die Katzen passen gerade noch ins Handgepäck dieses kleinen, aber kompakten Wanderzirkus. Angenehme Mythen werden geboten. Fahrendes Volk, Schaustellerei, Multinationalität. Weite.

Es ist durchaus schweinsgemäß, über eine Latte zu hüpfen. Menschen tun das auch, oft kaum eleganter, kriegen aber weniger Szenenapplaus. Die Tauben machen das, was sie immer machen: trippeln und flattern. Aber hier flattern sie als federleichte weiße Stola über den Schultern von Beatrix Hölscher, Taubenprinzessin und Zirkusdirektorin. Die Flügel und das lange weiße Kleid strahlen im Dunkeln. Es wird mit einem Minimum an blauem Licht gearbeitet. Tauben sind empfindliche Tiere; sie fallen schnell tot um.

„Zirkus“ ist ein altes Wort für „rund“. Zirkus steht für Manege und das Zurschaustellen des Außergewöhnlichen, der Sensation. Die ist aber oft nur Stereotyp, gnadenlos oft wiederholte Nummer.

Im Fliegenpilz sind die Nummern inszeniert. Kein Striptease von Ereignissen und Top-acts, sondern Spiel mit Bildern. In Heidi und der Geißenpeter springt eben nicht nur die Ziege, sondern es ist auch Realsatire auf Schweizer Alpen -Alltag (Beatrix Hölscher ist Schweizerin). Clown Boubou treibt sein Spiel mit Objekten, die so nicht greifbar sind: Mit Lichtpunkt oder Schmetterling.

Zur Phantasie gesellt sich der Thrill. Die Artisten arbeiten ohne Netz, und die zersägte Jungfrau wird eindeutig falsch zusammengesteckt, weswegen große Konfusion ausbricht. Der Puma-Dompteur trägt schwarzes Leder, zerfetzt. Es ist nicht der Sprung von Sockel zu Sockel, der den Thrill bringt, sondern die Katzen hautnah am Gitter, die Aufforderung des Direktors, sich ruhig zu verhalten, und die Möglichkeit, daß aus dem Spiel Kralle wird.

Als wir nachher im Cafewagen sitzen, meint Beatrix Hölscher, die Berliner hätten zur Zeit anderes im Kopf als Zirkus. Der Bedarf an Illusion scheint anderswo gedeckt.

Heike Barten

Zirkus Fliegenpilz noch bis zum 18.Juni täglich um 15.30 und 20 Uhr auf dem Lenne-Dreieck, Bellevuestraße.

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