: II. Zufällige Entdeckung
Zwei Tage nach der Landung in München bekam ich Schmerzen in Brust und Rücken, und meine Frau überredete mich am Tag vor Heiligabend – das war ein Samstag –, in die nahe gelegene Klinik nach Wolfratshausen zu fahren. Wie immer zu Weihnachten war ich auch voriges Jahr aus Washington nach Bayern gekommen, um meine 87 Jahre alte Mutter zu besuchen. Fast widerwillig war ich gereist, als könnte die Alte Welt mich festhalten, wo ich mich in der Neuen doch so wohl fühlte.
Noch heute überlege ich, wie es gewesen wäre, wenn ich den Rat meiner Frau in den Wind geschlagen und gesagt hätte, ich würde zum Arzt gehen, wenn die Sache nach Weihnachten nicht besser wäre. Natürlich war sie besser, und ich spürte nichts mehr. Das ist ja das Heimtückische an diesem Krebs, meist wird er zufällig diagnostiziert. „Nach einem Autounfall will man zum Beispiel sehen, ob es kein Schädeltrauma gegeben hat“, sagt Dr. Krajewski. „Man macht eine Computertomografie des Kopfes oder eine Röntgenaufnahme, um sicher zu sein, dass keine Rippe gebrochen ist. Dabei findet man den Krebs.“
Dr. Krajewski lässt sich schließlich über Sinn und Unsinn der Vorsorge aus. Man habe ausgerechnet, dass das Durchleuchten der Lunge alle halbe Jahre vergleichsweise kostengünstig sei und die Strahlenbelastung sich in Grenzen halte. Der Krebs würde trotzdem noch durchrutschen, erfahre ich.
Im Krankenhaus von Wolfratshausen stand ein Bauer mit verbundenem Fuß in einer langen Schlange, dem, so dachte ich, eine Milchkanne auf den Fuß gefallen war. Unfug, denn auch in Bayern wird die Milch nicht mehr in Kannen nach dem Melken abtransportiert. Dann war da jemand mit dick verbundenem Arm, der sich mit einer Kreissäge verletzt hatte; eine alte Frau mit Buckel; ein dicker Mann, der fürchterlich hustete. Soll nicht so viel Bier trinken, dachte ich. Jeder solle sich ins Wartezimmer setzen, mahnt der Oberarzt: „Sie werden der Reihe nach aufgerufen.“ The patient must be patient.
Ich wusste aber, wie man eine lange Schlange umgeht. Schmerzen in der Brust hätte ich, sagte ich, halb davon überzeugt, etwas Schlimmeres zu haben als diejenigen, die ich für Bauern hielt. „Kriegen Sie Luft?“, fragte die Krankenschwester. „Ja, aber es tut weh.“ – „Kommen Sie bitte mit.“ Es folgten die üblichen Prozeduren: Blutbild, Abhorchen, EKG, Röntgenaufnahme.
Vielleicht sterben auch alle diese Menschen, die an diesem Samstag vor Weihnachten in die Klinik gingen. Doch dieser Gedanke kam mir erst später.
Während ich warte und meine Frau schon zu beruhigen versuche, will man noch eine Röntgenaufnahme von mir machen. Was denn los sei, will ich wissen. Nur eine Aufnahme aus einem anderen Winkel, erfahre ich. Schließlich werde ich zu einem Arzt in ein Behandlungszimmer gerufen. „Sie sind wohl starker Raucher?“, fragt der. „Ich habe mein Lebtag nicht geraucht“, antworte ich. „Dann ist ja gut, dann wird das harmlos sein, was Sie da haben. Sie haben einen Knoten in der Lunge.“ Ich sehe einen tennisballgroßen Kreis auf einer der Röntgenaufnahmen. Meine Frau ist hereingekommen. „Ich bin die Ehefrau, mich geht das auch an.“ Ich bin leicht verstört. Mein Knoten ist doch nur meiner, denke ich.
Der Arzt teilt mit: „Wir wissen nicht, was das ist, aber es muss raus, dann wird man auch sehen, was es ist.“ Ich denke an die Verwendungsmöglichkeiten des Wortes „raus“ und beginne mitzuspielen: „Was es ist, ist erst raus, wenn es raus ist, und raus muss es.“
Jedenfalls mache ich Pläne. Meine Rückkehr nach Washington wird sich also um zirka einen Monat verzögern. Ich denke an das, was im Februar wird. Unseren Urlaub, den wir eigentlich Anfang des Jahres nehmen wollten, müssen wir eventuell verschieben, die Reise an den Mississippi lieber nicht, da habe ich einer Zeitschrift schon einen Bericht zugesagt.
Meine Frau gibt zu bedenken, dass man nach einer Lungenoperation eher schwach ist, das wäre doch meine Chance, mal eine Kur zu machen. Kur? Eine Kur liegt mir fern. Das machen doch nur Leute, die keinen Spaß an der Arbeit haben. Kur klingt dennoch merkwürdig reizvoll. „Vielleicht können wir nach Oberitalien in die Toskana fahren“, sagt meine Frau, die drei Jahre in Rom gelebt hat und lieber nach Italien als nach Amerika gegangen wäre.
Italien ist Alte Welt, ich aber will bald in die Neue zurück. „Krankheit als Chance“ geht mir als Satz durch den Kopf. Will mir die Krankheit etwas sagen? Habe ich im letzten Jahr zu viel gearbeitet? „Wir sind mit unserem diagnostischen Latein am Ende hier“, sagt schließlich der Dienst tuende Arzt an jenem Samstag vor Weihnachten in Wolfratshausen, „Sie müssen gleich nach Weihnachten in die Klinik Großhadern, Sie sollten das nicht aufschieben. Das kann alles Mögliche sein, auch ein Pilz, ein so genanntes Aspergilom.“
Aspergilose ist etwas, was man zumeist in der Landwirtschaft bekommt. Diese Ärzte wussten wahrscheinlich schon Bescheid über meinen Befund, gehörten aber nicht zu dem Schlag moderner Ärzte, die jeden Tag locker mit der Krankheit zum Tode umgehen.
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