: I N T E R V I E W „Die Erwerbstätigkeit muß im Zentrum bleiben“
■ Rudolf Dreßler, Bundesvorsitzender der sozialdemokratischen AFA, zu den Lafontaine–Thesen
taz: Herr Dreßler, was haben Sie dagegen, daß Leute, die 5.000 DM und mehr verdienen, auf Einkommen und Arbeitszeit zugunsten neuer Arbeitsplätze verzichten? Rudolf Dreßler: Die Fragestellung hat zwei gewaltige Haken. Wer 5.000 DM verdient und beispielsweise verheiratet ist und zwei Kinder hat, dem bleiben nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und der üblichen Großstadtmiete noch 1.600 DM - für 4 Personen. Derjenige, der sagt, ein solcher Mann muß auf soundsoviel verzichten, soll uns erklären, wieviel von den 1.600 DM in dieser Familie überflüssig ist. Zweiter Haken: die Bedingung, daß Unternehmer für den Lohnverzicht Einstellungen vornehmen. Ich kenne derzeit kein Mittel, das Unternehmer dazu zwingen könnte. Der DGB hat erklärt, wenn eine solche Garantie von den Unternehmern abgegeben würde, wäre er dabei... ..heißt das, Sie würden mit Lafontaine übereinstimmen, wenn die Tarifpartner mit der Höhe des Lohnverzichts gleichzeitig Neueinstellungen vereinbarten? Ich wäre mit Lafontaine einer Meinung, wenn es um Gehaltsgruppen geht, wo die Existenz einer vierköpfigen Familie nicht noch zusätzlich gefährdet wird. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß das bei dem Beispiel von 5.000 DM schlicht unakzeptabel ist. Wieviele Menschen in der BRD erzielen überhaupt ein tarifvertraglich geregeltes Einkommen in dieser Höhe? Ich kann Ihnen die Zahl nicht genau nennen, aber ich weiß eines definitiv: Alles das, was über die Sozialversicherungspflichtgrenze von 5.700 DM reicht, taucht kaum in Tarifverträgen auf. Das sind Ausnahmen. In der Regel handelt es sich in diesem Bereich um außertarifliche Angestellte. Meine These ist darüber hinaus, daß eine solche Maßnahme angesichts der sehr begrenzten Summe, die sich dahinter verbirgt, beschäftigungspolitisch kaum etwas bringen würde. Aber im Öffentlichen Dienst ließe sich doch durch einen solchen Verzicht schnell was machen. Kultusminister Schwier wollte in Nordrhein–Westfalen 6.000 arbeitslose Lehrer einstellen, wenn alle Lehrer auf zwei Stunden Arbeitszeit und den entsprechenden Lohn verzichteten. Wenn eine Landesregierung so etwas mit einer Gewerkschaft vereinbaren will, dann hindert sie kein Mensch daran, das in Tarifverhandlungen einzubringen. Für mich als Sozialdemokraten ist es aber ein großer Unterschied, ob ich so etwas als öffentlicher Arbeitgeber in Verhandlungen einbringe, oder ob ich, während sich eine Gewerkschaft in einer Tarifauseinandersetzung befindet, über die Medien den Prozeß der Findung eines Tarifkompromisses durch nicht ausgereifte und in sich nicht schlüssige Vorschläge letztlich störe. Noch einmal zum Öffentlichen Dienst. Diejenigen, die jetzt arbeitslos sind, wollen sofort Arbeit, und denen nützen die Vertröstungen auf eine andere Politik überhaupt nichts. Die GEW hat ja den Schwier–Vorschlag abgelehnt, weil die Gewerkschaft zuallererst die Beschäftigten, nicht aber die Arbeitslosen im Blick hat. Ich kann nicht erkennen, daß die Gewerkschaften bei ihrer Tarifpolitik Arbeitslose nicht im Blick gehabt hätten. Sie haben doch gegen den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber für die Arbeitszeitverkürzung gekämpft und auf von der Kapitalseite angebotenen Lohnerhöhungen zugunsten der Arbeitslosen verzichtet. Lafontaine hält die heutige Bedeutung der Erwerbsarbeit für nicht zeitgemäß und fordert eine höhere Bewertung der nicht erwerbstätigen Arbeit. Was haben Sie gegen eine solche Aufwertung? Dagegen habe ich überhaupt nichts. Das haben wir schon seit Jahren beschlossen. Es geht darum, daß die Thesen aus der Vorveröffentlichung des neuen Buches von Oskar eindeutig signalisieren, daß er die Erwerbsarbeit als dominierende gesellschaftliche Kraft zurückdrängen will. Da sind wir beim entscheidenden Punkt. Aus der Erwerbstätigkeit erwächst doch erst alles andere. Wenn ich die Erwerbsarbeit sozusagen gleichberechtigt mit anderen Tätigkeiten setze, die aber - in dem System, in dem wir leben - aus dieser Erwerbstätigkeit zu finanzieren sind, dann gebe ich den Anspruch auf, die Gesellschaft überhaupt noch gestalten zu wollen. Wenn ich die Erwerbsarbeit sozusagen weginterpretiere, dann komme ich in eine Situation, wo ich etwa mit der CDU/CSU in einem zetralen Punkt austauschbar bin, denn die CDU/CSU sieht die Erwerbstätigkeit nicht mehr im Zentrum der Gesellschaft. Sie nimmt in Kauf, daß Millionen von Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Ich bin nicht bereit, das hinzunehmen. Die Arbeitslosigkeit bekommen Sie auf absehbare Zeit auch nicht weg. Wäre da nicht die sofortige Einführung der Grundsicherung, wie von Lafontaine vorgeschlagen, angebracht? Das ist nicht der Punkt der Auseinandersetzung mit Oskar Lafontaine. Ich habe vor einigen Monaten ein Konzept der sozialen Grundsicherung vorgestellt. Nur, wenn ich die Erwerbstätigkeit nicht ins Zentrum stelle, dann werde ich die Finanzierung der Grundsicherung nicht leisten können. Das ist der eigentliche Dissens zu Lafontaine.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen