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Hungrig in der Vahr

■ Kleine Labung / Pastorin Niebuhr über die Speisung der Fünftausend

Jesus verteilt fünf Gerstenbrote und zwei Fische an eine vielköpfige Menge, die ihm, dem Krankenheiler, nachgefolgt ist. Alle Hungrigen werden satt. Sogar zwölf Körbe mit Brotbrocken bleiben übrig. So, kurz gefaßt, geht eine der bekanntesten Wundergeschichten des Herrn Jesus Christus die „Speisung der Fünftausend“. Doch was fällt einer Pastorin am 19. August 1990 in einer mittelhäßlichen betonverstrebten Kirche in Bremen-Vahr dazu ein? Dort, wo zur symbolischen Labung einmal mehr ein kleiner Korb mit Graubrotwürfelchen und zwei Kelche mit rotem Traubensaft bereit stehen? Pastorin Annette Niebuhr fiel zur biblischen Speisung etwas ein: Sie schweifte auch nicht in die Ferne zu den Millionen Hungernden in der „Dritten Welt„; sondern sie sprach direkt die knapp sechzig SonntagsfrühstückerInnen auf den Vahrer Kirchenbänken an und bezog sich selbst auf der Kanzel mit ein. „Ich meine nicht den Hunger auf ein Stück Kuchen, auf das man verzichten kann.“ Jesus habe die Menge angesehen und ihren Mangel erkannt. „Möchte ich das, daß jemand meinen ganz tiefen Hunger in mir sieht?“ Den großen Hunger der Kinder nach uneingeschränkter Liebe, den keine Mutter und kein Vater zu stillen wisse. Den nagenden Hunger in den Beziehungen der Erwachsenen. „Den Hunger nach einer Zukunft für unsere Welt: Was spüren wir, wenn Bäume in der Vahr schon im Sommer ihre Blätter verlieren?“

„Wird unser Hunger gestillt werden?“ stellte die Pastorin dann die Anschlußfrage und beugte gleich falschen Hoffnungen auf ihre Hunger-Still-Künste vor: „Ich glaube nicht, daß wir Jesus nachmachen können.“ Sie zählte den Hungrigen aber kleine, banale, vielleicht sogar abgeschmackte und trotzdem

-in ihrer Kleinheit und Erreichbachbarkeit tröstliche Gesten auf: „Eine Hand, die sich schützend um einen legt. Eine Hand, die einen Baum pflanzt und gießt.“ Dann wies sie hin auf die kleinen Graubrotwürfelchen, die sie beim anschließenden Abendmahl anzubieten hat, und von denen sie weiß, daß die nicht sättigen werden, daß die aber ebenso wie die kleinen alltäglichen Gesten viel mehr als nichts sein können. Davon jedoch, daß einst Gottes Brot alle satt machen wird, scheint sie nicht ganz überzeugt: Sie beschrieb der Gemeinde die Wirkung ihres Abendmahls-Angebots zwar mit sehr bestimmten Worten: „Kleine Stückchen Brot, die uns hinweisen auf das Brot Gottes, das unseren Hunger ganz stillen wird“ um dann einschränkend hinzuzufügen - „so zumindest ist die Verheißung“. Doch Verheißung hin oder her, die Pastorin hat unseren Hunger gesehen und für uns zwar keine Brotlaibe aber doch einen kräftigen Schluck Traubensaft und mehr bereitgehalten.

Barbara Debus

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