"Hungerrevolten" in Haiti: 1,25 Euro pro Tag
Für haitianische Familien ist es in den letzten Monaten noch schwerer geworden, mit dem ohnehin geringen Einkommen den Lebensunterhalt zu bestreiten.
PORT-AU-PRINCE taz In den letzten Wochen gab es nur ein Thema im TapTap, wenn Rachel Francois (* Name geändert) am Abend mit dem populären haitianischen Transportmittel nach Hause fuhr: Das Brot war wieder teurer geworden, das Preisschild für einen Sack Reis war wieder neu ausgezeichnet worden. Und das Benzin sei von inzwischen von 0,65 Euro um gut 80 Prozent auf 1,20 Euro pro Liter gestiegen, klagten die Busfahrer und verlangten mehr Gourdes.
Am Monatsende bleibt derzeit für die 24 Jahre alte haitianische Sekretärin einer internationalen Hilfsorganisation immer weniger im Geldbeutel. Kleider, Miete und vor allem Lebensmittel haben sich im Vergleich zum Vorjahr exorbitant manchmal bis zu 50 Prozent verteuert. Vor knapp einem Monat kostete der 12,5 Kilo Sack Reis noch 800 Gourdes, umgerechnet rund 14 Euro. Jetzt muss sie dafür 17,50 Euro berappen. 25 Prozent beträgt alleine die Preissteigerung in 30 Tagen bei diesem Grundnahrungsmittel, das eigentlich auf jeden Tisch in einem haitianischen Haushalt gehört. "Mit bleibt am Monatsende immer weniger Geld für Kleidung oder andere Anschaffungen", sagt Rachel, die rund 300 Euro monatlich verdient.
"Was sollen erst die Menschen machen, die gar kein festes Einkommen haben", fragt sich die Sekretärin. 80 Prozent der haitianischen Bevölkerung müssen im statistischen Durchschnitt täglich mit 1,25 Euro ihren Lebensunterhalt bestreiten, aber die Mehrzahl hat keine Arbeit und lebt von Gelegenheitsjobs oder den Überweisungen der ausgewanderten Familienangehörigen. Umgerechnet 1,1 Milliarden Euro schicken sie jährlich nach Hause.
Der Ökonom und Radiokommentator Kesner Pharel sieht eine der wesentlichen Ursache für die "Hungerrevolten" in den ausländischen Lebensmittellieferungen. Die heimische Reisindustrie liege am Boden, seitdem im Rahmen der Hilfe das Welternährungsprogramm Billigreis eingeführt hat. So wie Haiti inzwischen in Sicherheitsfragen fast vollständig auf im Land patrouillierende UN-Blauhelm-Soldaten angewiesen ist, hängt es ebenso am Importtropf der Lebensmittelindustrie. "Jede kleine Krise auf dem Weltmarkt macht sich hier als Katastrophe bemerkbar" sagt Pharel.
Ihn wundert es nicht, dass das "Pulverfass Lebenshaltungskosten" explodiert ist - es brodelte schon lange. "Wer Hunger hat, kann nicht zuhören", heißt ein haitianisches Sprichwort. Und so scheint auch die Ansprache des Staatspräsidenten René Preval zu verhallen, der die Demonstranten zur Besonnenheit aufgerufen hat. Jetzt ist wieder Minustah gefragt - die UN-Stabilisierungstruppe mit militärischem Potenzial. Warum sich allerdings der Unmut der Bevölkerung erst jetzt artikuliert, ist im "Land der Gerüchte und Verschwörungstheorien", so eine politische Beobachterin, Gegenstand heftiger Spekulationen.
Der ehemalige Rebellenchef Guy Philippe stecke dahinter, der seit drei Wochen von der haitianischen Polizei aber vor allem von internationalen Drogenfahndern als einer der haitianischen Hintermänner des Drogenhandels gesucht wird und Muskeln zeigen will, sagen die einen. Fanmi Lavalas, die Aristide-Bewegung schüre den Protest, um Unruhe zu stiften und die Rückkehr des 2004 gestürzten Ex-Präsidenten auf die Tagesordnungen zu setzen, munkeln die anderen. Andere verbreiten in der Gerüchteküche von Port-au-Prince die These, dass die Lebensmittelproteste der Regierung nutzen. Mit Blick auf die internationale Geberkonferenz Ende April werde die Wahrscheinlichkeit höher, das die Teilnehmerstaaten aus Nordamerika und Europa mehr Geld für das ärmste Land Lateinamerikas zur Verfügung stellen könnten. Auch dafür gibt es in Haiti ein Sprichwort: Nach dem Tanz ist die Trommel immer schwer.
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