Humanitäre Hilfe im Gazastreifen: Angst vor noch mehr Chaos
Die humanitäre Hilfe im Gazastreifen soll künftig eine Stiftung übernehmen, unterstützt von US-Sicherheitsfirmen. Etablierte Helfer sind misstrauisch.

Die US-Regierung und Israel wollen ab Ende Mai einen neuen Mechanismus in Gang setzen, um humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen. Über ihn wird heftig gestritten. Anfang der Woche trafen laut Medienberichten Dutzende Söldner privater Sicherheitsfirmen in Israel ein, die die geplanten Verteilstationen der erst im Februar gegründeten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) sichern sollen. Die Hilfe wäre bitter nötig.
Seit fast drei Monaten schneidet Israel die rund zwei Millionen Bewohner Gazas von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff ab, während laut UNO 240.000 Tonnen Hilfsgüter an der Grenze lagern. Selbst nach Aussagen von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht die Bevölkerung kurz vor einer Hungersnot. Täglich tötet Israels Armee Dutzende Menschen bei Bombenangriffen, die Opfer größtenteils palästinensische Zivilisten, Frauen und Kinder.
Seit dieser Woche hat Israels Regierung unter massivem internationalem Druck wenige Hilfslieferungen durch etablierte Hilfsorganisationen zugelassen, die aber als völlig unzureichend kritisiert werden. Die Transporte sollen als Überbrückung dienen, bis die GHF ihre Arbeit aufnimmt.
Bewacht durch Privatfirmen
GHF-Direktor Jake Wood erklärte dem Sender CNN jüngst, seine Organisation wolle bis Ende Mai einsatzbereit sein. Doch bisher umgeben die undurchsichtige Stiftung vor allem Fragen und Widersprüche. Der Plan der in der Schweiz registrierten GHF sieht die Ausgabe von Hilfsgütern an zunächst vier Verteilstationen vornehmlich im Süden Gazas vor. Zwei private US-Sicherheitsfirmen sollen die Anlagen bewachen. „Die Verteilung wird ausschließlich durch zivile Teams erfolgen“, sagte ein GHF-Sprecher der Financial Times. Die israelische Armee soll die Gebiete um die Stationen sichern.
„Ich unterstütze alles, was mehr Hilfe zu den Menschen bringen kann“, sagt der in den USA lebende Aktivist Ahmed Fouad Alkhatib, der aus Gaza stammt. „Doch bei diesem Mechanismus ist nicht klar, wie die Menschen durch Kampfzonen sicher zu den Verteilstationen kommen könnten oder wie zwei Millionen Menschen von so wenigen Ausgabepunkten aus versorgt werden sollen.“ GHF selbst gibt in ihrem Vorschlag an, zunächst nur 1,2 Millionen Menschen versorgen zu können, etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Auch dann müsste jede Verteilstation 300.000 Menschen versorgen. Internationale Hilfsorganisationen arbeiteten zuletzt mit Hunderten Ausgabepunkten.
Gut sei es immerhin, dass die israelische Armee nicht selbst beteiligt sei, sagt Alkhatib. Der Einsatz der privaten US-Sicherheitsfirmen UG Solutions und Safe Reach Solutions werfe aber ebenso Fragen auf. „Wir wissen nichts über Gesichtserkennung oder sonstige Screeningmethoden, die dort möglicherweise eingesetzt werden sollen und ob diese Daten mit Israel geteilt werden“, sagt Alkhatib.
Ein hochrangiger Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der anonym mit der taz sprach, zweifelt an der Einsatzfähigkeit des Hilfsmechanismus. „Humanitäre Hilfe für zwei Millionen Menschen braucht eine Menge Gerät und erfahrenes Personal, dem die lokale Bevölkerung vertraut. Doch wir wissen nicht, wer für GHF letztlich dort arbeiten soll.“ Wenn sie auf lokale Hilfskräfte zurückgreifen, vermutet er, dürften sie kaum Zeit für eine Überprüfung der Mitarbeiter gehabt haben, wie sie für Beschäftigte vieler internationaler Hilfsorganisationen üblich ist. Die Alternative sei, dass internationale Mitarbeiter Transport und Verteilung übernehmen. „Aber woher sollen die wissen, dass sie in Gaza nicht selbst Hilfe an die Hamas verteilen?“ Israels zentraler Vorwurf lautet, durch die etablierten Organisationen profitiere vor allem die radikalislamistische Palästinensergruppe.
Bevölkerung lebt auf weniger als 30 Prozent des Gebietes
Er vermutet einen anderen Grund: Die Zentralisierung der Hilfsgüterverteilung soll die Bewohner des Gazastreifens zwingen, in bestimmte Gebiete nahe den Verteilstationen im Süden umzuziehen. Viele Helfer fürchten, dass die etablierten Hilfsorganisationen langfristig dazu bewegt werden sollen, sich an dem US-israelischen Mechanismus zu beteiligen.
Darauf scheint auch GHF-Direktor Wood zu zielen. Die Hilfsorganisationen stünden vor einer Wahl: „Dies wird der Mechanismus sein, durch den Hilfe nach Gaza verteilt werden kann“, sagte er CNN. „Werdet ihr mitmachen?“ Davon werde es abhängen, ob alle versorgt werden könnten. Bisher lehnen etablierte Hilfsorganisationen den Plan ab. „Die Maßnahmen machen humanitäre Hilfe zu einer Waffe“, kritisiert Jonathan Fowler vom UN-Palästinahilfswerk Unrwa. Die UN-Organisationen könnten sich nicht zum ausführenden Organ einer Kriegspartei machen.
Die Bewohner von Gaza drängen sich bereits jetzt auf weniger als 30 Prozent des Küstenstreifens zusammen, der Rest des Gebietes ist von Israel zu Kampf- oder Sperrgebiet erklärt. Trotz Unterernährung und Krankheiten schrecken viele vor der erneuten Flucht in den Süden nicht nur zurück, weil Netanjahu selbst eine Rückkehr von Bewohnern jüngst ausgeschlossen hat. Es gibt bisher auch keine Informationen, wie Schwache, Kranke oder Alte die bis zu 20 Kilogramm schweren Hilfspakete von den Verteilstationen zu ihren Unterkünften bringen sollen.
Die Hilfe solle „unabhängig und streng überwacht“ verteilt werden, heißt es in dem GHF-Vorschlag, aus dem der Sender France 24 zitiert. So sollten nur jene Hilfe bekommen, die dazu berechtigt seien. Mehrere führende UN-Vertreter haben bestritten, dass die Hamas sich systematisch Hilfsgüter aneigne. Nachprüfen lassen sich die Angaben nicht, Israel verwehrt internationalen Journalisten seit 19 Monaten den unabhängigen Zugang.
Nur etwa 60 Lastwagen pro Tag
„Mein größtes Bedenken ist, dass sich der GHF-Plan als wirkungslos herausstellt, um denen Hilfe zu bringen, die sie am meisten brauchen“, sagt Alkhatib. Aktuell sieht der Plan nur etwa 60 Lastwagen pro Tag vor, ein Zehntel dessen, was den Gazastreifen während der Waffenruhe im Januar und Februar erreichte.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Unter vielen humanitären Helfern herrscht Misstrauen gegenüber der neuen Stiftung und ihrer Führung. „Es macht den Eindruck, als sei diesmal eine Gruppe von Tech-Unternehmern im Stil von Elon Musk am Werk“, sagt der anonyme humanitäre Helfer. „Sie agieren, als wäre humanitäres Völkerrecht ein Haufen überholter Regeln. Dabei, so die Sorge vieler humanitärer Helfer, könnte der Betrieb eines getrennten, privaten Hilfsmechanismus noch mehr Chaos in den vom Krieg zerstörten Küstenstreifen bringen. Woher die Organisation finanziert wird, ist unklar.
Wer zum Führungsteam der Stiftung zählen wird, ist auch noch unklar. Im Gespräch ist Bill A. Miller, ein ehemaliges Mitglied der UN-Abteilung für Gefahrenabwehr. Die Mitarbeit von David Beasley, dem ehemaligen Chef des Welternährungsprogramms, ist bisher nicht bestätigt. Michael Fakhri, der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung, fürchtet, dass bewusst auf Privatfirmen gesetzt werde. GHF sei als private Stiftung in der Schweiz angemeldet. „Das schafft ein undurchsichtiges System, in dem es nur schwer möglich ist, jemanden für ein Scheitern zur Verantwortung zu ziehen.“
Einige Kritikpunkte hat auch die GHF mittlerweile anerkannt. In einem Brief an die israelische Regierung fordert sie Verteilstationen auch im Norden. Die Organisation will zudem keine persönlichen Details der Hilfeempfänger mit Israel teilen.
Netanjahu hält derweil an den Kriegszielen fest, zu denen die Einnahme des gesamten Gazastreifens gehört sowie der Plan, die Bevölkerung in den Süden und mittelfristig in andere Länder zu drängen. Am Donnerstagmorgen gab der Premierminister seine erste Pressekonferenz seit fünf Monaten: Als Bedingungen für ein Kriegsende nennt er nun neben der Kapitulation der Hamas und der Rückkehr aller Geiseln auch die Umsetzung des Trump-Plans. Dessen Vorhaben, die Palästinenser in andere Länder zu vertreiben, sei „revolutionär“ und „brillant“ – kaum eine Basis für weitere Verhandlungen mit der Hamas.
Daran ändert auch der wachsende Widerstand im Inland wenig. Der linksgerichtete Oppositionspolitiker und ehemalige General Yair Golan warnte, Israel werde zum „Paria-Staat“ und mache sich die „Ermordung von Babys zum Hobby“. Unter Netanjahus Anhängern herrschte Empörung. Netanjahu selbst sprach von Lügenpropaganda gegen Israel.
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