: Huhn und Roastbeef
„Tödlicher Irrtum“: Butz Peters hat viele, viele Seiten über die RAF zusammengetragen – ein differenziertes Bild kommt dennoch nicht heraus
„Um es ganz deutlich zu sagen: Vor Ihnen liegt nicht der 437. Versuch, die Ursachen des Terrorismus abschließend zu klären.“ Damit leitete Butz Peters 1991 sein Buch „RAF – Terrorismus in Deutschland“ ein, in dem er die RAF als „nahezu perfekt arbeitende Killertruppe“ porträtierte. 13 Jahre später hat sich viel getan: Die RAF hat sich aufgelöst und Peters ist nicht mehr NDR-Redakteur, sondern Rechtsanwalt in einer Medienkanzlei. Zeit für ein neues Buch: „Tödlicher Irrtum – Die Geschichte der RAF“: „Sie halten nicht den 528. Versuch in der Hand, den deutschen ‚Terrorismus‘ abschließend zu erläutern“, variiert der Autor sein Vorwort von einst. Warum er heute „Terrorismus“ in Anführungszeichen setzt, bleibt unklar – an seiner Abscheu vor der „Killertruppe“ hat sich nichts geändert.
Dass in den letzten 13 Jahren 91 Titel über die RAF erschienen sein sollen, lässt sich nicht mal in Peters’ eigenem Literaturverzeichnis nachvollziehen. Die Autobiografien, Erinnerungen, Sachstandsberichte und Urteile, die seit der Veröffentlichung seines ersten Buches erschienen sind – sei es nun Inge Vietts „Nie war ich furchtloser“, Thorwald Prolls Erinnerungen an die Kaufhausbrandstiftung, Bommi Baumanns „Wie alles anfing“ und Gert Conrads verzerrtes Porträt von Holger Meins –, hat Peters allerdings auf dem Schreibtisch gehabt, und er bedient sich fleißig daraus. Mehr Neues hat „Tödlicher Irrtum“ auch kaum zu bieten: Da der Autor an Ursachenforschung wenig interessiert ist, analytische Passagen den Fluss seines in Aust-Manier flockig formulierten Buches nur stören würden, ist „Tödlicher Irrtum“ vor allem eine um viele Daten, Zitate und ein paar sonstige zeitgeschichtliche Fakten erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Terrorismus in Deutschland“. Dass das erste Buch im Vorwort des zweiten nicht einmal erwähnt wird, ist angesichts dessen kein freundlicher Zug.
Zum Peters-Buch selbst lässt sich nicht viel sagen: Er erzählt die Geschichte der RAF nach, beginnend mit der Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt am Main, endend mit der Festnahme von Andrea Klump, bei der Horst Ludwig Meyer erschossen wird. Anders, als er es im Vorwort verspricht, rekonstruiert Peters die Anschläge, Geiselnahmen, Fahndungsaktionen und Hungerstreiks nicht – er schreibt wie Heinrich Breloer filmt: Dokufiktion. Quellennachweise erfolgen gelegentlich.
Quellenkritik ist Peters, der kein Historiker ist, ein Fremdwort. Dabei müsste er als promovierter Jurist wenigstens wissen, dass in Gerichtsurteilen nur die prozessuale Wahrheit ihren Niederschlag findet, nicht das, was wirklich geschehen ist. Die Auswahl dessen, was er berichtet, ist überwiegend tendenziös. Beispielsweise erfahren die LeserInnen, dass im dritten Hungerstreik die Gefangenen mit „Astronautenkost“ zwangsernährt worden seien, die teuer, aber abwechslungsreich gewesen sei. „Mache der Häftling ein ‚Bäuerchen‘“, gibt er die Auskunft des Stuttgarter Gefängnisarztes detailverliebt wieder, „bekomme er (der Häftling) sogar mit, was ihm eingeflößt wurde: ‚Heute habe ich Roastbeef oder Huhn gekriegt.‘“
Peters informiert auch darüber, wie die Gefangenen über das „info“ untereinander Druck ausgeübt haben, damit alle den Hungerstreik weiterführen. Darüber, dass Holger Meins’ Anwalt schon während des Hungerstreiks Strafanzeige gegen den Wittlicher Anstaltsarzt wegen Misshandlung gestellt hatte, weil er für die Zwangsernährung einen viel zu dicken Schlauch benutzte, der durch den Mund statt durch die Nase eingeführt wurde, erfahren Peters’ Leser nichts. Auch nichts über die Anträge von Meins’ Verteidigern, dass er von einem Vertrauensarzt versorgt werden sollte, weil er weder „Huhn“ noch „Roastbeef“ bekam, sondern statt der erforderlichen 1.200 bis 1.600 Kalorien pro Tag nur mit 400 bis 800 Kalorien systematisch unterernährt worden sein soll.
Auslassungen und Verkürzungen dieser Art prägen das gesamte Buch, in dem das „Celler Loch“, mit dem der Verfassungsschutz eine Gefangenenbefreiungsaktion vorspiegeln wollte, nur beiläufig als „merkwürdige Aktion“ erwähnt wird, Spekulationen darüber, wer das RAF-Logo entwarf und warum es später verändert wurde, breit ausgeführt werden. Wer bereit ist, 860 Seiten über die RAF zu lesen ist, hat für seine Zeit etwas Besseres verdient.
Eine bessere Lesestrategie wäre es wohl, eine solche Seitenmenge auf drei, vier Bücher zu verteilen. Ulrike Thimmes „Eine Bombe für die RAF“ sollte dabei nicht fehlen; das Buch ist der Versuch einer Mutter, das Leben ihres Sohnes Johannes, der lange Jahre zum antiimperialistischen Widerstand gehörte und schließlich bei der vorzeitigen Detonation einer selbst gebauten Bombe starb, nun tatsächlich zu rekonstruieren. Dieser behutsame, kritische Bericht erzählt, auch wenn er nur einen zeitlichen und biografischen Ausschnitt erfasst, viel mehr über die RAF und ihr Umfeld, aber auch die Reaktionen der Öffentlichkeit und der Politik, als Peters es mit seinem Anspruch, „die Geschichte“ zu schreiben, auf vielen hundert Seiten vermag. Wer dagegen eine alles auslotende Geschichtsschreibung sucht, wird sich noch einige Jahre gedulden müssen. Ein Autor oder eine Autorin dafür ist noch nicht in Sicht, und auch wichtige Akten der späten Siebziger- und Achtzigerjahre sind noch nicht zugänglich. OLIVER TOLMEIN
Butz Peters: „Tödlicher Irrtum – Die Geschichte der RAF“, Argon Verlag, Berlin 2004, 807 Seiten, 24,90 Euro Ulrike Thimme: „Eine Bombe für die RAF – Das Leben und Sterben des Johannes Thimme von seiner Mutter erzählt“. Beck Verlag, München 2004, 199 Seiten, 17,90 Euro