Hongkong-Kino auf der Berlinale: Die Mystery-Sause dreht frei
Verpasste Apokalypsen und Faltenwurf im Raum-Zeit-Kontinuum: „The Midnight After“ und „That Demon Within“ im Berlinale-Panorama.
Zunächst sind da: Farben. Unfassbar viele Farben, Schlieren, Lichtreflexe. Eine Metropole in der Nacht - taghell und nichts als brummende Hektik: Hongkong, 2013. Wenn man sich Asiens Großstädte immer schon als Zentren der Akzeleration vorgestellt hat, findet man in den ersten Einstellungen von Fruit Chans „The Midnight After“ den dafür besten Bildbeleg.
Doch baut der treuen Berlinale-Gängern seit „Dumplings“ (2004) als Garant für kontroverse Stoffe bestens bekannte Regisseur mit diesem optischen Exzess lediglich Fallhöhe auf: Nur eine Tunnelfahrt später finden sich die sozial gut gemischten Fahrgäste eines Busses in einer Stadt wieder, in der die plötzliche Anwesenheit der Abwesenheit aller übrigen Menschen geradezu Albdruck entwickelt.
Was ist geschehen? Verpasste Apokalypse? Faltenwurf im Raum-Zeit-Kontinuum? Und warum erliegen manche der 16 Fahrgäste - monströse Fabulierkunst: jeden davon lernt man kennen - rätselhaften Krankheiten, wenn sie nicht in Flammen aufgehen, zu Staub zerfallen oder Visionen haben?
„The Midnight After": 15.2., Cinemaxx 7, 19.30 Uhr
„That Demon Within": 15.2., Cubix 9, 14.30 Uhr
In einem Imbiss sammelt man sich zur Erörterung der Lage, soweit einzelne Vorbehalte untereinander dies gestatten.
Ganz ohne Erklärbärentum
Als Zuschauer denkt man dabei kurz an „Lost“. Doch während die US-Serie ein kontrolliertes Erzähl-Environment aufbaut und mit einer souveränen Perspektive lockt, von der aus sich das Plot-Puzzle zu einem großen Ganzen fügt, drehen in „Midnight After“ die Zentrifugalkräfte der Mystery-Sause völlig frei: Exzesslust statt Erklärbärentum!
Chan vernäht zu einem Monstrum, was kaum vernähbar ist: Apokalypsen-Pathos und Hongkong-Nonsense-Humor. Sozialallegorie und Horror-Trash. Blutrunst und pop-sensible Indie-Schrulligkeit, wenn ein Musiknerd sich mit David Bowies „Major Tom“ in den Himmel über Hongkong beamt. Da ist Chan kurzzeitig der Michel Gondry Hongkongs, nur um gleich wieder zu sudeln wie sonst nur Takashi Miike.
Chan stellt sich mit dieser von jeder Auflage zum dramaturgisch ebenen Erzählen völlig freien Form in eine zuletzt etwas aus dem Blick geratene Tradition des Hongkong-Kinos, das lange eines der wildesten und spontansten weltweit war.
Katerstimmung im Verhältnis zu China
Dass es ihm dabei auch um ein allegorisches Stimmungsbild der einstigen Kronkolonie 16 Jahre nach der Übergabe an China geht, erahnt man eher, als dass es einem fertig ausformuliert präsentiert wird. Das mag mit der chinesischen Zensur zusammenhängen; im Presseheft spricht der Regisseur von einer allgemeinen Katerstimmung in der Stadt bezüglich deren Zukunft im Verhältnis zu China.
Wohl wahrscheinlicher ist aber, dass einem schlicht der Eindruck aus erster Hand fehlt. In Hongkong, wo es lange - im Zuge der Orientierung ans chinesische Festland hat sich dies etwas verschoben - zentraler Bestandteil der Kinokultur war, den eigenen Lebensmittelpunkt auf der Leinwand verhandelt zu sehen, herrschen diesbezüglich andere Sensibilitäten.
Die überschaubare Zahl von Drehorten begünstigte schon immer diverse Querverbindungen zwischen den Hongkong-Filmen. Chans „Midnight After“ ist denn auch in einer nahezu identischen Einstellung gewissermaßen am Bauch mit Dante Lams ebenfalls im Panorama gezeigten „That Demon Within“ vernäht.
Darin verschiebt Lam, ein Meister des kompromisslosen Actionfilms, dessen Filme das Festival erfreulich regelmäßig ins Programm holt, den actionlastigen Hongkong-Polizeithriller in eine vom Horrorkino infizierte Revue mehrfach ineinander geschobener, aufbrechender Traumata: Ein neurotisch penibler Polizist rettet einem Schwerstverbrecher mit dem sprechenden Namen Hon Kong per Bluttransfusion gewissermaßen aus Versehen das Leben. Von Schuldgefühlen geplagt, will er ihn eigenhändig zur Strecke bringen.
Eine Abfolge drastischer Wutausbrüche
Dass in der anschließenden Abfolge drastischer Wutausbrüche und meisterlich konzipierter Setpieces ein allegorischer Mehrwert liegt, schwingt hier allerdings eher lose mit, als dass es sich, zumindest dem westlichen Zuschauer, vordergründig offenbart.
Und spätestens wenn er ganze Autos mit Karacho in Tankstellen schleudert, entpuppt sich Lam einmal mehr als cine-obsessiver Skulpturist des Bewegungskinos, den zum Glück weder guter Geschmack, noch Auflagen zum dezenten Storytelling bändigen können.
Unter der teils grotesken Textur beider Filme rumort es auf eine Weise, die über die künstlichen Realitäten des dynamischen Hongkong-Kinos spürbar hinaus weist. Der interessierte Blick auf die nähere Zukunft dieses Kinos am Rockzipfel der chinesischen Macht dürfte sich lohnen.
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