Homosexualität in der Türkei: Der lange Weg zur Toleranz
Ihr Alltag ist geprägt von Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung: Homosexuelle sind in der Türkei sozialer Ächtung ausgesetzt. Nun ist ihr Verein Lambda in Gefahr.
ISTANBUL taz Emre ist heute knapp 30 Jahre alt. Er kam Ende der 90er-Jahre als Student nach Istanbul und hatte hier sein Coming-out als Schwuler. In der Nacht vor Silvester 2001 hatte er ein Erlebnis, das ihm bis heute in den Knochen steckt. Er kam nach einem angenehmen Abend aus einer Schwulenbar und schlenderte zu Fuß nach Hause. Plötzlich stoppte ein Auto neben ihm mit einem gut gekleideten und gut aussehenden Mann am Steuer. Der forderte ihn auf, doch einzusteigen, statt weiter zu Fuß zu gehen. Emre glaubte, es sei ein anderer Besucher der Bar, man unterhielt sich angeregt, bis Emre vor seinem Haus wieder aussteigen wollte. Plötzlich änderte sich die gesamte Situation. Der Mann schrie ihn an, er solle sitzen bleiben, beschimpfte ihn als Schwulen und zog einen Polizeiausweis aus der Tasche. Er drohte, Emre wegen illegaler Prostitution zur nächsten großen Wache zu bringen und ihn seinen Kollegen zum "Silvestergeschenk" zu machen. Wenn er das verhindern wolle, solle er zahlen. Weil Emre nicht genug Geld dabeihatte, zwang der Polizist ihn, einen Freund anzurufen, damit dieser einen größeren Betrag beisteuern könnte.
Am Donnerstag fällt vor dem 5. Berufungsgericht im Istanbuler Bezirk Beyoglu die Entscheidung über die beantragte Schließung des Schwulen- und Lesbenvereins Lambda. Lambda wurde vor ein paar Jahren gegründet, um Schwulen, Lesben, Transvestiten und Transsexuellen in Istanbul eine Anlaufstelle zu geben und die Rechte von Homosexuellen in der Öffentlichkeit besser vertreten zu können. Der Verein gibt eine Zeitung heraus, organisiert Treffen und Demonstrationen und unterstützt Mitglieder, die wegen ihrer sexuellen Präferenz Schwierigkeiten mit der Polizei, ihrer Familie ihrem Arbeitgeber oder sonst wem haben. Anfang 2007 bekam Lambda einen Brief des Istanbuler Gouverneurs mit einem Beschluss zur Schließung des Vereins, der angeblich gegen verschiedene Gesetze und ganz allgemein gegen die guten Sitten und die herrschende Moral verstieße. Lambda klagte gegen diesen Beschluss und bekam in erster Instanz auch recht. Der zuständige Staatsanwalt wies das Ansinnen des Gouverneurs zurück. Trotzdem wandte sich das Amt dann an das Berufungsgericht. Das Gericht ordnete eine Expertenanhörung an, bei der geklärt werden sollte, inwieweit die Vertretung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen und deren Nennung im Vereinsnamen gegen die Moral verstoße. Ein ähnliches Verfahren gegen den Verein Kaos-GL in Ankara endete bereits im Oktober 2005 damit, dass das Gericht die Verwendung der Wörter "schwul" und "lesbisch" im Namen des Vereins als nicht moralisch verwerflich befand und der Verein nicht geschlossen wurde. Die Lambda-Verantwortlichen hoffen deshalb auf eine gleiche Entscheidung in Istanbul, weil für ihre Arbeit ein legaler Status unbedingt notwenig ist und die Wahrnehmung ihres Vereins in der Öffentlichkeit stark davon beeinflusst sei.
Emre wurde in eine Arrestzelle gesteckt, und der Polizeioffizier schnappte sich seinen Freund. Er klingelte bei ihm um 3 Uhr nachts und behauptete, er suche ein Handy von Emre, der wegen Prostitution festgenommen worden sei. Wenn wir zahlen würden, so berichtet Emres Freund über die Begegnung, wäre Emre am nächsten Morgen wieder frei. Der Polizist verschwand und kam eine Stunde später wieder zurück. Emres Freund hatte ungefähr 100 Dollar aufgetrieben. Er versuchte zu verhandeln, doch der Offizier drohte damit, ihn und seine anwesende Freundin ebenfalls mit auf die Wache zu nehmen. "Wir waren völlig verängstigt", so Emres Freund, "und gaben ihm schließlich alles, was wir hatten."
Der Vorfall mit der Polizei hat Emre nachhaltig verunsichert. Er begab sich in psychologische Behandlung. "Ich fühlte mich total verunsichert und hilflos. Wie Freiwild. Die Polizei wusste genau, wie sie uns erpressen konnte, und nutzte unsere Hilflosigkeit gnadenlos aus." Noch Jahre später litt Emre unter dem Vorfall und versucht bis heute, jedem Polizisten aus dem Weg zu gehen. Seine Geschichte erzählte er einem Besucher der amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), die jetzt erstmals einen umfassenden Report über die Situation von Schwulen, Lesben und Transvestiten in der Türkei vorlegte. Auf Grundlage von fast hundert Interviews mit Betroffenen, einmal 2003 und dann noch einmal vier Jahre später, 2007, geführt, zeichnen sie nun ein differenziertes Bild der Situation von Schwulen, Lesben, Transvestiten und Transsexuellen, das überwiegend düster ist, auch wenn es einige "positive Signale" gibt, wie Juliana Cano Nieto aus New York bei der Vorstellung des Berichts erläuterte.
Rein rechtlich ist die Sache eigentlich völlig klar. Homosexualität ist und war in der Türkischen Republik nie verboten. Sogar schon im Osmanischen Reich wurde gleichgeschlechtliche Liebe strafrechtlich nicht verfolgt. Theoretisch gilt per Verfassung das Verbot der Diskriminierung. Doch die Realität sieht ganz anders aus. Schwule Männer, lesbische Frauen, Transvestiten und Transsexuelle sehen sich vielfältiger Diskriminierung und sozialer Ächtung ausgesetzt. Sevgi Sözen, ein Mediziner, der bis 2003 dem Justizministerium als Berater zugearbeitet hat, gab HRW einige Zahlen aus einer Untersuchung des Ministeriums weiter, die bislang nicht veröffentlicht wurden. Danach haben 37 Prozent aller befragten Schwulen und Lesben von physischer Gewalt gegen sie berichtet, bei Transvestiten und Transsexuellen seinen es sogar 89 Prozent gewesen. Das führt in der Regel dazu, dass Homosexuelle ihre sexuelle Präferenz geheim halten und gegenüber ihrer Familie und ihrem Arbeitgeber ein Doppelleben führen.
Schon deshalb werden sie zu leichten Opfern von Erpressungen und zum Ziel von Kriminellen, die sich sicher fühlen, weil ihre Opfer sie nicht anzeigen. Dazu kommen ideologisch motivierte Angriffe von islamischen Fundamentalisten und rechtsradikalen Neofaschisten. Vor allem schwule Männer berichten gegenüber Human Rights Watch, dass organisierte Banden die von Homosexuellen bevorzugten Treffpunkte regelrecht observieren, um dann Schwule zu terrorisieren und auszurauben.
Royan und Kenan, die beide bereits Opfer von Überfällen wurden, berichteten Human Rights Watch, von welch unterschiedlichen Gruppen sie bereits bedroht wurden. "Da sind einmal die Fundamentalisten. Sie glauben, Homosexuelle zusammenzuschlagen sei eine gottgefällige Tat. Die zweite Gruppe sind arme Jugendliche aus der Vorstadt, die in nationalistischen Organisationen eingetrichtert bekommen haben, Schwule seien reich und dekadent: "Raub sie aus, und wenn sie sich wehren, töte sie." Eine dritte Gruppe sind professionelle Kriminelle denen es nur um die leichte Beute geht."
Drama in der Familie
Anders als bei homosexuellen Männern beginnt das Drama für lesbische Frauen und Mädchen in aller Regel bereits in der Familie. Wenn Mädchen sich wegen ihrer gleichgeschlechtlichen Neigung weigern zu heiraten, werden sie zumeist von ihren Familien massiv unter Druck gesetzt. Das muss nicht nur psychischer Druck sein, sondern geht, bis zu Tötungsdelikten, um, wie bei den sogenannten Ehrenmorden auch, die "Ehre" der Familie wiederherzustellen. Wenn Frauen aber zur Polizei gehen, weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung von ihrer eigenen Familie bedroht werden, finden sie so gut wie nie Unterstützung. Tansu, eine 23-jährige Frau, erzählte Human Rights Watch, obwohl sie von zu Hause geflüchtet sei und sich eine eigene Wohnung gesucht habe, sei sie von ihrem Vater permanent bedroht worden. Sie wandte sich schließlich deshalb doch an die Polizei und wurde an einen Staatsanwalt weitergeleitet. Der Staatsanwalt hörte sich ihre Geschichte an, sagte dann, er könne ihr leider nicht helfen, und fragte sie zum Schluss: "Sagen Sie doch mal, wie haben Sie denn eigentlich Sex mit einer anderen Frau?"
Da die Erfahrungen mit der Polizei nach wie vor schlecht sind, erstatte tatsächlich so gut wie nie ein angegriffener Schwuler anschließend Anzeige. Den Angriffen von Islamisten, Faschisten und Kriminellen auszuweichen sei aber schwierig, weil es eben so wenige Treffpunkte für Schwule gebe und die dann auch schnell bekannt seien. Schwulentreffs gibt es in der Türkei praktisch nur in Istanbul und Ankara. Aufgrund der sozialen Ächtung flüchten Menschen mit homosexueller Neigung aus der Provinz in aller Regel in eine der beiden Metropolen, weil sie, wenn überhaupt, nur dort ihre Präferenz leben können.
Sowohl in Istanbul als auch in Ankara gibt es allerdings seit einigen Jahren eine Entwicklung, um aus der Anonymität und Hilflosigkeit herauszukommen. In beiden Städten haben sich Vereine von Schwulen und Lesben gegründet, in denen man sich gegenseitig unterstützt, regelmäßige Publikationen herausgibt und nicht zuletzt Demos zum Christopher Street Day organisiert. Im letzten Jahr gingen bei der entsprechenden Demo in Istanbul immerhin bereits fast tausend Leute auf die Straße. Geht es gar ums Showbusiness, werden Schwule, Transvestiten oder Transsexuelle dagegen schon länger akzeptiert oder sogar geradezu angehimmelt.
Zeki Müren, einer der größten Sänger, Komponisten, Dichter und Schauspieler, den die Republik je hatte, war offenkundig schwul, auch wenn er sich nicht expressis verbis dazu bekannte. Er kleidete sich ausgesprochen feminin, trat stark geschminkt auf und war dennoch über alle Klassen und Geschlechtergrenzen des Landes hinweg populär. Seine Kleidung ist heute in einem Zeki-Müren-Museum in Bodrum ausgestellt, wo der Sänger vor seinem Tod 1996 lebte.
Dasselbe gilt für Bülent Ersoy. Die Sängerin, die 1980 in London eine Geschlechtsumwandlung hatte vornehmen lassen, gehört zum festen Bestand des eher seichten Popgeschäfts und ist Mitglied der Jury der türkischen Variante von der Suche nach dem Superstar, "Popstar Alaturka". In dieser Funktion löste sie im Februar einen riesigen Skandal aus, als sie den damaligen Einmarsch türkischer Truppen im Nordirak nicht patriotisch bejubelte, sondern trocken anmerkte, wenn sie einen Sohn hätte, würde sie ihn nicht dem Militär aushändigen, damit es ihn unter die Erde schickt. Obwohl sämtliche Nationalisten Schaum vor dem Mund hatten, solidarisierten sich doch etliche Kollegen und Kolleginnen mit Bülent Ersoy, die eben trotz ihrer Geschlechtsumwandlung hoch angesehen ist.
Gemischte Signale
Human Rights Watch spricht deshalb dann auch von gemischten Signalen, die die Gesellschaft an Homosexuelle, Transvestiten und Transsexuelle aussendet. Während, wie Scott Long von HRW berichtet, der Menschenrechtsausschuss des Parlaments kein Interesse zeigte, sich mit der Organisation über die Rechte von Homosexuellen auseinanderzusetzen, besuchte dennoch ein Mitglied des Ausschusses, der AKP-Abgeordnete Zafer Üskül, erst kürzlich einen Homosexuellenkongress in Ankara. Allerdings musste er sich in der islamistischen Zeitung Vakit anschließend vorhalten lassen, er hätte sich mit "Perversen" zusammengesetzt.
Human Rights Watch und die drei Vereine der Schwulen, Lesben und Transsexuellen in der Türkei fordern deshalb von der Regierung, sie solle ein klares Zeichen zur Antidiskriminierung Homosexueller setzen. "Wir brauchen in der geplanten neuen Verfassung eine eindeutige Formulierung, die sexuelle Diskriminierung verbietet, und wir brauchen ein Antidiskriminierungsgesetz", fasst Scott Long das Resümee des Reports zusammen. Was sofort gemacht werden könne, seien klare Anweisungen an die Polizei, um die Verfolgung von Schwulen, Lesben und Transvestiten zu beenden.
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