: Homevideo und Horizontbäume
■ „Gelenkiges Geschöpf“– ein neuer Gedichtband von Mirko Bonné beschreibt die Gefahr zwischen Poesie und Paracetamol
Er verstehe nicht, weshalb jetzt alle über das Virtuelle sprächen, sagte Mirko Bonné kürzlich, Dichter lebten schließlich schon seit einigen Generationen mit einer verdoppelten Realität.
Das Gedicht als virtueller Raum, als Ort, der sich im Wort versteckt. Die These ist genauso verlockend wie zweifelhaft. Seit Jahren weist der französische Philosoph Paul Virilio immer wieder auf die immensen Gefahren hin, die aus der Unterschätzung der aktuellen Veränderungen der Medienlandschaft erwachsen. Wir haben es heute tatsächlich damit zu tun, daß eine Realität die andere ersetzt. Der Flugsimulator ist überholt. Mit dem Anschluß an die Datenautobahn wird die Ortsveränderung überflüssig.
Mit Literatur ist dieses Phänomen nicht zu vergleichen. Zum Glück – möchte man hinzufügen – auch nicht mit den Arbeiten des jungen Lyrikers Mirko Bonné, der mit Gelenkiges Geschöpf seinen zweiten Gedichtband vorlegt.
Vielmehr lenkt Bonné den Blick auf den Gegensatz zwischen der täglichen Konfrontation mit dem Künstlichen und der Sehnsucht nach dem Natürlichen. In dem Gedicht „Felder“verwandelt sich die „reale“Landschaft scheinbar beiläufig in die Wirklichkeit einer Modelleisenbahn: „Du denkst nur Felder grüne / Flügel atmen dich an / Bäume die blindlings begeistern // und das Gras erscheint dir noch immer / aufgespannt auf die Modelleisenbahnplatte / im verwaisten Zimmer deiner Großmutter // die leere Bausatzstadt / voller Leben // und der Lärm / unbewegter Verkehr / in Kreppbäumen / Stare / und dein Atem / Sturmböen // über winzigem Weizen...“
Bonnés Gedichte sind keine von allen Erfahrungen losgelösten „Kunstmaschinen“(Oskar Pastior). Vielmehr machen viele von ihnen virtuos und manchmal betont künstlich ganz und gar Alltägliches zum Thema. So gelingt Bonné sogar, was heutzutage fast unmöglich ist: über die Liebe zu schreiben. „Ineinandergeschoben / ergab alles einen Sinn“– nüchterner und deutlicher geht es kaum.
„Jetzt, da ich mein Alphabet gelernt habe, sag mir, was ich tun soll.“Diesen Satz von David Lynch stellt Bonné als Motto seinem Band voran. Inzwischen weiß er, was er tut. 1994 erschien sein Erstling Langrenus. Seitdem hat er den eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgt, und das Resultat ist ein unverwechselbarer lyrischer Ton. Zwischen „Homevideo“und „Horizontbäumen“erstreckt sich das Gelände, das Bonné schreibend durchquert. John Keats, dessen Werke er jahrelang übersetzte, Georg Trakl und E.E. Cummings sind seine berühmten Weggenossen.
Bonnés Lyrik verweigert sich bewußt jeder formalen Zuordnung, ohne dabei jemals formlos zu sein. Sein Vorgehen ist paradox. Einerseits ist das lyrische Ich stets in Gefahr: „Poesie und Paracetamol“schützen nicht vor der drohenden „Auflösung“. Andererseits hält Bonné unerschrocken an seinem subjektiven Blick auf die außersprachliche Realität fest.
Jan Bürger
Mirko Bonné: Gelenkiges Geschöpf. Gedichte. Rospo Verlag, Hamburg 1996. Gestaltung: Andreas Schwarz. 138 S.
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