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„Holt die Leiche ab“

■ 17jähriges Mädchen in der Türkei zu Tode gefoltert

Gestern legte amnesty international einen neuen Menschenrechtsbericht zur Türkei vor. Darin wird die türkische Regierung beschuldigt, trotz gegenteiliger Ankündigungen immer noch nichts gegen die Folter in Polizeistationen und Gefägnissen unternommen zu haben. Außerdem berichtet ai, daß in den kurdischen Gebieten derTürkei mindestens 50 Menschen von Todesschwadronen ermordet worden seien. Der folgende Bericht basiert auf Angaben des Menschrechtsvereins in Diyarbakir.

Wenige Tage nach dem kurdischen Neujahrsfest fährt in Sirnak vor dem Haus der Familie Anik ein Panzer auf. Sechs Mitglieder der Spezialeinheit „Özel-Tim“ durchsuchen die Räume und nehmen die 17jährige Biseng Anik fest. Der Vorwurf lautet: Sie habe während der Newrozfeier separatistische Parolen gerufen und die kurdische Fahne geschwenkt. Bei der Polizei wird sie von Polizeichef Hasan Buldum vernommen. Drei Tage lang erhält die Familie keinerlei Nachrichten, am vierten dann ruft ein Polizist an und teilt mit, die Person, die Biseng am nächsten stehe, solle ins Revier kommen. Da der Vater in Diyarbakir ist, eilt der Großvater zur Polizeistation. Dort wird ihm mitgeteilt, seine Enkelin habe sich das Leben genommen: „Kommt und holt die Leiche ab.“

Noch am gleichen Tag wird der Leichnam ins Staatskrankenhaus nach Sirnak gebracht. Die Mutter und der Bruder von Biseng Anik bestehen darauf, sie ein letztes Mal vor der Beerdigung zu sehen: Der Körper weist überall Folterspuren auf. Ihre Finger und Hände, die Füße und Zehen sind tiefschwarz, von Elektroschocks verkohlt — „wie Asche“, sagt der Bruder. An vielen Stellen schwärende Wunden, in die Salz gestreut wurde. Die Augen sind herausgefoltert, im Kopf eine Schußwunde. Die Sicherheitskräfte erklären, das Mädchen habe sich in der Nacht das Leben genommen. Die Ärzte im Krankenhaus wurden nach Aussagen von Mehtem Kayas vom Menschenrechtsverein Sirnak gezwungen, im Obduktionsbericht einen „normalen Tod“ zu attestieren.

Die Rechtsanwältin der Familie, Feride Lacin, hält die Darstellung der Polizei für „erstunken und erlogen“. Nach ihrer Schilderung ist Biseng Anik in der Todesnacht mehrmals gefoltert worden. Mithäftlinge hätten immer wieder Schreie gehört. Auch die folternden Polizisten hätten Biseng zu einem Geständnis zwingen wollen. Die Männer sollen dem Mädchen mehrmals lauthals gedroht haben: „Diese Nacht werden wir zusammen verbringen“, und: „So eine Nacht hast du in deienm Leben noch nicht erlebt.“ Gegenüber anderen Gefangenen heißt es: „Wißt ihr, wo eure Freundin ist? Sie ist verreckt und bald in der Erde.“

Die nachträgliche Darstellung der Sicherheitskräfte ist nach Meinung der Rechtsanwältin vor keinem Gericht haltbar: Die Polizisten behaupten, sie hätten eine großkalibrige Schußwaffe in der Gefängniszelle von Biseng „vergessen“, damit habe sie sich das Leben genommen. Feride Lacin: „Eine durchsichtige Lüge.“ Am Fall von Biseng Anik hätten die Sicherheitskräfte offensichtlich ein Exempel statuieren wollen, um jugendliche Anhänger der PKK abzuschrecken. Daß die Folterer im Falle der Biseng Anik nachträglich eine Selbstmordversion erfanden, bewerten Vertreter von Menschenrechtsvereinen allerdings auch als Zeichen für eine zunehmende Verunsicherung der Sicherheitskräfte. Hintergrund ist ein neues Gesetz der türkischen Regierung, nach dem zukünftig bereits 24 Stunden nach der Festnahme ein richterlicher Haftbefehl vorliegen müsse. Metin Fahroglu

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