Holocaust in Polen: "Die Mörder blieben geschätzte Bürger"
In dem Buch "Goldene Ernte" schreiben zwei polnische AutorInnen darüber, wie ihre Landsleute vom Holocaust profitiert haben. Sie sehen sich heftigen Anfeindungen ausgesetzt.
taz: Frau Grudzinska-Gross, Herr Gross, Sie werfen den Polen in Ihrem Buch "Goldene Ernte" vor, vom Holocaust materiell profitiert zu haben. Die Reaktionen in Polen waren sehr heftig. In Gdansk klebten sogar Zettel an den Schaufenstern der Buchhandlungen mit der Warnung: "Hier werden antipolnische Bücher verkauft. Kauft nicht in diesem Laden!" Hatten Sie solche Reaktionen erwartet?
Irena Grudzinska-Gross: Das stimmt. Es gab Boykottaufrufe. Fanatiker starteten eine Cyber-Attacke gegen den Verlag Znak in Krakau, sodass dort für kurze Zeit keine Bestellungen mehr eingehen konnten. Aber das war keine Massenerscheinung.
Warum hat sich dann eine Abteilungsleiterin des Verlags öffentlich für das Buch entschuldigt?
Jan Tomasz Gross: Schon vor Erscheinen des Buches gab es Streit im Verlag. Dann allerdings ausgerechnet während der Präsentation des Buches aufzustehen und sich für das Buch zu entschuldigen war äußerst illoyal gegenüber dem Verlagschef. Andererseits ist dieses "mea culpa" natürlich interessant. Es verleiht dem Thema eine religiöse Note. Viele Polen begreifen das Buch in den Kategorien von Schuld und Sühne.
Steht die Schulddebatte nicht am Anfang jeder Vergangenheitsaufarbeitung?
Jan Tomasz Gross
geb. 1947 in Warschau, ist ein US-amerikanischer Historiker und Soziologe polnisch-jüdischer Herkunft. Er ist spezialisiert auf die Geschichte Polens im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Berühmt wurde er durch den 2001 publizierten Essay "Nachbarn" über das Pogrom in der nordpolnischen Kleinstadt Jedwabne von 1941. 2006 befasste er sich in dem Buch "Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz" (Angst. Antisemitismus in Polen nach Auschwitz) mit den Nachkriegspogromen an Holocaust-Überlebenden in Polen. Gross lehrt an der Princeton University im US-Staat New Jersey.
Irena Grudzinska-Gross
geb. 1946 in Gdynia (Gdingen), ist eine US-amerikanische Romanistin und Literaturhistorikerin polnischjüdischer Herkunft. Sie ist spezialisiert auf polnische, russische und französische Literatur und lehrt an der Princeton-Universität im US-Staat New Jersey. Derzeit arbeitet sie an einem Buch über die Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky und Czeslaw Milosz zum Thema "Krieg, Gewalt und nationalistische Ideologien".
IGG: Die Schuldfrage spielt eine ganz spezifische Rolle in dieser Debatte. Sie blockiert die Akzeptanz historischer Fakten. Die Leute glauben, sie selbst würden beschuldigt, müssten sich rechtfertigen und verteidigen. Dabei geht es um eine historische Selbstverständigung. Wir hatten bei unseren Gesprächen in Polen oft den Eindruck, als wollten die Leute uns sagen: "Du klagst mich an. Wenn ich die Fakten anerkenne, muss ich mich schuldig fühlen. Das kann ich nicht zulassen." So wirft man uns auch vor, dass es uns in Wirklichkeit um eine Entschädigung für die einst beraubten Juden gehe.
JTG: Wenn wir uns die ernst zu nehmenden Reaktionen ansehen, so ist im historischen Mainstream Polens längst als Tatsache akzeptiert, dass auch Polen während des Zweiten Weltkriegs Juden töteten und beraubten. Die Diskussion dreht sich nur noch darum, wie man am besten darüber schreiben sollte, um das breite Publikum zu erreichen.
Ein Vorwurf lautet, Sie würden zu sehr verallgemeinern. Kann sich dadurch wirklich in der Welt die Meinung herausbilden, die Polen seien genauso schuld am Holocaust wie die Deutschen?
JTG: Diesen Vorwurf gibt es. Aber er stimmt nicht. Wir schreiben nicht, dass "die Polen" sich an Mordaktionen oder Raubzügen gegen Juden beteiligten. Wir schreiben, dass es in der Okkupationszeit Morde von Polen an Juden gab, dass Polen normalerweise das Eigentum von Juden übernahmen, wenn diese von den Nazis in ein Ghetto oder ein KZ abtransportiert wurden. Es war auch eher die Regel denn die Ausnahme, dass Polen Juden an die Deutschen verrieten oder sogar auslieferten, statt sie zu schützen.
Anders als dies im polnischen Bewusstsein verankert ist, war der Verrat an Juden eben nicht die Domäne des Pöbels oder einer gesellschaftlichen Randgruppe, sondern zählte zum üblichen Verhalten. Nur so ist auch zu erklären, dass Polen, die Juden retteten, dies auch vor anderen Polen geheim halten mussten, während Polen, die Juden an die Deutschen auslieferten, damit öffentlich hausieren gingen.
Woher wissen Sie das?
JTG: Die Quellen - Gerichtsakten, Briefe, Memoiren - zeigen dies deutlich: Die Nachbarn waren eine Bedrohung für jede Familie, die Juden versteckt hielt. Sie durften auf keinen Fall davon erfahren. Umgekehrt kam es oft zu Morden an Juden, von denen alle im Dorf wussten. Niemand schämte sich dafür. Die Menschen nahmen an den Mordaktionen teil, lebten ganz normal weiter und waren geschätzte Mitglieder der Dorfgemeinschaft.
Es handelte sich also nicht um Einzeltaten?
JTG: Man muss sich überlegen, was es bedeutet, wenn ein Mensch öffentlich morden kann und sich danach die Zeugen, oft die ganze Dorfgemeinschaft, nicht vom Mörder abwenden. Die Mörder waren weiterhin geschätzte Bürger. Darauf machen wir in unserem Buch aufmerksam. Zu Recht, wie wir meinen.
Die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita fordert Sie auf, sich zu entschuldigen.
JTG: Wir? Bei den Plünderern jüdischen Eigentums? Das ist völlig undenkbar. Aber es zeigt, mit welchen Bandagen hier gekämpft wird. Am Ende bleibt den Leuten meist nur im Gedächtnis, dass mit dem Buch und den Autoren etwas nicht stimmt.
Andere werfen Ihnen vor, nur Altbekanntes aufzuwärmen.
JTG: Mit dem Satz "Das ist doch alles längst bekannt", wird insinuiert: "Dieser Gross, das ist doch gar kein Historiker. Der macht gar keine eigene Forschungen, sondern wiederholt nur das, was andere vor ihm herausgefunden haben." Konsequent heißt es dann meist: "Lasst uns von etwas anderem sprechen!" Und genau darum geht es. Man will über die Arisierung jüdischen Eigentums nicht sprechen. Bekannt sind diese Dinge vielleicht den Fachleuten, aber mit Sicherheit nicht dem breiteren Publikum.
IGG: Außerdem reicht es nicht, sich einmal mit den Fakten vertraut zu machen. Letztlich geht es um die große Revision des Bildes, das die Polen von sich selbst im Zweiten Weltkrieg haben. Die Helden und Opfer gab es. Aber es gab eben auch die Täter und Nutznießer. Wir sind mit den heftigen Reaktionen auf unser Buch eigentlich ganz zufrieden, zeigt es uns doch, dass das Thema den Menschen unter die Haut geht.
Das ganze intellektuelle Europa reagiert positiv auf die selbstkritische Geschichtsdebatte in Polen. Warum meinen dennoch viele Publizisten und Historiker in Polen, dass man besser nicht die ganze historische Wahrheit sagen sollte, weil dies dem Ansehen Polens im Ausland schaden würde?
JTG: Das ist ein seltsames Phänomen. Denn wir machen dieselbe Erfahrung. In den USA und auch in Israel reagiert man überaus positiv auf die selbstkritische Debatte in Polen. Man findet diese Offenheit geradezu fantastisch.
Woher rührt dann die Überzeugung, dass das Ausland negativ reagieren könnte?
JTG: Den meisten Polen dürfte klar sein, dass hier etwas ans Tageslicht befördert wird, was über Jahrzehnte bewusst verborgen wurde.
IGG: Polen haben bis heute das deutsche Trauma nicht überwunden. Wenn wir über den Zweiten Weltkrieg und die Okkupationszeit diskutieren, sagen uns viele Polen, man müsse zuerst daran erinnern, dass die Deutschen in Polen einmarschierten und sechs Millionen polnische Staatsbürger ermordeten. Sie fürchten, dass sie für Verbrechen verantwortlich gemacht werden könnten, die die Deutschen begangen haben.
JTG: Wir schreiben in unserem Buch aber ganz klar, wer die Hauptschuld am Holocaust trägt. Sogar der Titel heißt ja: "Goldene Ernte. Was sich am Rande des Holocaust ereignete".
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