: Holländische Elegien
Gibt es ein melancholischeres Land als die Niederlande? Die, wie der Name schon sagt, so tief unter dem Meeresspiegel liegen, dass sie ohne schützende Deiche im Nu von der Landkarte verschwinden würden? Wo der Himmel so niedrig hängt, dass man meint, er müsse einem jeden Augenblick auf den Kopf fallen? Wo man, der Unbeständigkeit des Wetters wegen, die meiste Zeit des Jahres besser drinnen verbringt, am allerbesten mit einer Tasse heißer Van Houten-Schokolade in der Hand, und aus gardinenlosen Fenstern aufs schwarze Meer blickt? Und wo Kühe, die melancholischsten Tiere überhaupt, auf grünen Weiden stehen und von ihrer nächsten Inkarnation als Rennpferd träumen?
Für Popmusik ist Holland weniger berühmt. Vermutlich sind die meisten Holländer einfach zu melancholisch, um Bands zu gründen, jedenfalls steht die holländische Gruppe The Nits allein auf weiter, internationaler Flur. Dafür schreiben sie mit beständiger Regelmäßigkeit die wahrscheinlich melancholischsten Popminiaturen, die man sich vorstellen kann.
Vor mehr als 25 Jahren gegründet, entsprachen sie auf ihre Weise den vielen britischen Art-School-Bands, welche die Popmusik, wie man sie heute kennt, in den vergangenen Dekaden geprägt haben. Mit sorgsam konzipierten Synthipopbasteleien, mit eingängigen, aber hintersinnigen Melodien und sperrigen Texten empfahlen sich die Nits in den Achtzigerjahren bei geschmackssicheren Melancholikern, ähnlich wie Scritti Politti zur gleichen Zeit in England.
Gerne verwirrten die Nits ihre Hörer mit kryptischen, selten mehr als vier Buchstaben umfassenden Albumtiteln wie „Omsk“, „Henk“ oder dem schönen, trilingualen „Adieu, Sweet Bahnhof“. Ihre Songs handelten von Alltagszenen und Traumsequenzen, vom „Port of Amsterdam“ und dem „Bike in Head“, von Zügen und Menschen. Ihre Affinität zur Kunst machte sich in Songnamen wie „A Touch of Henry Moore“ oder „Acres of Tintoretto“ bemerkbar, oder wenn sie davon sangen, wie sehr sie ihren Bauhausstuhl vermissten.
Hinter den holländischen Bergen horchte die Welt allerdings erst auf, als die Nits Ende der Achtziger mit dem Stück „In the Dutch Mountains“ ihren ersten und einzigen wirklichen Hit hatten. Und auch der kam eher durch Zufall: Das ganze Album war im Übungsraum eines holländischen Gymnasiums im schlichten Zweispurverfahren aufgenommen worden.
Kurz danach erschien die EP „Hat“, ein Album mit sechs Songs. Auf dem Cover sieht man die Silhouette eines Menschen in kargem Raum, vermutlich eine Künstlerwohnung; vor ihm der warme Schein einer Deckenlampe, vermutlich von Ikea.
Einer der Songs heißt schlicht „Blue“. Die Melodie klingt ein wenig akkordeonumrandet, und der Text besteht aus lediglich ein paar wenigen Zeilen, kurz und präzise wie ein japanisches Haiku: „I’m missing my friend / I’m missing her again“, wird die Ausgangssituation beschrieben. Und dann fährt der Ich-Erzähler bzw. Sänger fort in seinen Gedanken: „And I don’t know why / Why / Is the Sky / Blue / Blue / Blue / Blue / Blue.“
Mehr Worte braucht es nicht, um echte Melancholie zu beschreiben. Und dann möchte man sich gerne einen heißen Kakao bereiten und einsam über zugefrorene Dünen stapfen.
DANIEL BAX
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