Holiday-Heart-Syndrom: Wenn es in der Brust wummert
Das Leben junger Menschen ist durchgetaktet, unbeständig, hektisch. Manchmal macht das Herz schlapp: Vorhofflimmern. Das kann von zu viel Feierei kommen.
Wie hätte es auch anders sein sollen. In Venedig, der Stadt der Liebe, wo Pärchen Händchen halten und Gondoliere Verliebte besingen, schlug Benjamin Steins* Herz so schnell wie noch nie. Dreimal schneller als normal. 180 Schläge die Minute.
Nachts wie tags. Kraftlos schleppte er sich über die Brücken, nachts wälzte er sich herum. Schlief nicht. Selbst wenn er sich im Bett nicht rührte, boxte sein Herz so heftig gegen seinen Rippen, dass seine Freundin neben ihm aus dem Schlaf schreckte. Nach zehn Tagen Urlaub war klar: An der Herz-OP, zu der ihm sein Arzt dringend geraten hatte, führte kein Weg mehr vorbei.
Benjamin Stein, 32, leidet am Holiday-Heart-Syndrom, einer besonderen Form der Herzrhythmusstörung, an der vor allem junge Männer leiden. Er ist ein schlanker, sportlicher Typ, wird selten krank. Doch der Muskel in seiner Brust kontrahiert ungleichmäßig, von einer Sekunde auf die andere kann sich Steins Herzschlag verdreifachen. Er rast dann hoch auf 180 Schläge die Minute, dann fällt er zurück auf den Ruhepuls. Wie ein epileptischer Anfall im Herz sei das, sagt Stein. "Es fühlt sich an, als würde dir jemand von innen ohne Rhythmusgefühl gegen den Brustkorb trommeln." Die Herzrhythmusstörungen treten meist auf, wenn er an den Wochenenden oder im Urlaub über die Stränge geschlagen hat. Kurze Zeit später schreckt er nachts auf und hört es pumpen in seiner Brust, als würde er sprinten.
Diese und viele andere spannende Geschichten lesen Sie in der nächsten sonntaz vom 4. und 5. Juni 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz an ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Der Entdecker: 1978 fiel einem Arzt in Großbritannien das erste Mal auf, dass besonders nach Feiertagen oder Wochenenden junge Männer mit Herzrhythmusstörungen in seiner Notaufnahme auftauchten. Alle hatten sie gefeiert, getrunken, geraucht. Mitten in der Nacht waren dann ihre Herzen aus dem Takt geraten. Holiday-Heart-Syndrom nannte der Arzt das Phänomen deswegen.
--
Die Zahlen: Vorhofflimmern ist die häufigste Herzerkrankung älterer Menschen. Etwa 12 Prozent aller 65-Jährigen in Deutschland leiden daran, bei über 85-Jährigen sind es sogar 20 Prozent. In jüngeren Jahren erwischt es gerade mal einen von 10.000 Menschen.
--
Der Eingriff: Bei einer Herzrhythmusstörung wird ein Schnitt an der Leiste gesetzt. Dann wird ein Katheter über die Leiste in einer Vene bis in den linken Herzvorhof geschoben, um dort Herzgewebe, das die Rhythmusstörung verursacht, zu veröden.
Studium, Auslandsaufenthalte, Praktika
Vielleicht passt kaum eine Krankheit so gut in unsere Zeit wie diese. Das Leben junger Menschen ist durchgetaktet, unbeständig, hektisch. Sie hetzen durchs Studium, durch Auslandsaufenthalte, durch Praktika. An den Wochenenden tauchen sie ab, zappeln auf Tanzflächen, stehen in Bars, um dem durchgestylten Lebensplan für ein paar Stunden zu entfliehen. So arhythmisch das Herz Benjamin Steins schlägt, so rastlos ist sein Leben.
Genau genommen ist das Holiday-Heart-Syndrom keine eigenständige Krankheit. Mediziner sprechen bei dem, was mit Benjamin Steins Herz passiert, von Vorhofflimmern – mit der Besonderheit, dass Menschen an ihr erkranken, die dafür eigentlich viel zu jung sind. Eigentlich dürfte es das Holiday-Heart Syndrom gar nicht geben. Denn das Herz junger Männer ist ein robuster Muskel, der auch extremen Belastungen spielend standhalten sollte. Wenn das Herz anfängt zu stottern, dann meist später.
Alkohol könnte ein Auslöser sein
Dort, wo das Herz des Berliner Nachlebens schlägt, im Bezirk Mitte, interpretiert Alexander Wutzler die Sinuskurven seiner Patienten. Wurtzler ist Kardiologe am Virchow-Klinikum der Berliner Charité, das auf Herzrhythmusstörungen spezialisiert ist. Er hat auch Benjamin Stein behandelt. "Vorhofflimmern, wie bei ihm", sagt er, "ist für sein Alter völlig untypisch und nicht durch eine gewöhnliche Herz- oder Schilddrüsenerkrankung erklärbar." Die Forschung stehe noch am Anfang, aber Studien lassen vermuten, dass Alkohol ein Auslöser für die Beschwerden ist. Die tatsächliche Ursache für das Vorhofflimmern könne er aber nicht sein. Man kenne sie noch nicht genau, sagt Wutzler. "Aber zum Glück wissen wir, wie wir die Herzrhythmusstörungen behandeln können." Richtig gefährlich ist allerdings nicht das Vorhofflimmern selbst, sondern seine Langzeitfolgen. Die Herzkrankheit erhöht die Gefahr eines Schlaganfalls im Alter. Und sie schränkt Betroffene ein.
Benjamin Stein ist bisher immer vorwärts geprescht. Auf das Studium folgte der Doktortitel, darauf direkt eine Anstellung als politischer Berater. Von seinem Bürofenster aus blickt er auf das Brandenburger Tor. Für ein Herzleiden ist eigentlich kein Platz in seinem Leben. Vor allem für keines, dessen Diagnose Jahre in Anspruch nimmt.
"Es begann im ersten Semester nach einer Party"
"Es begann im ersten Semester nach einer Party", sagt Stein. Zwei Bier zu viel getrunken, zwei Joints zu viel geraucht. Auf dem Weg nach Hause schlug der Beat der Party in seiner Brust weiter.
Weder er noch die Ärzte nahmen das sofort ernst. Er war 22 Jahre alt. Wer vermutet schon bei einem so jungen Kerl Vorhofflimmern? Stein besuchte mehrere Herz-Spezialisten. Ungefährlich, beruhigten ihn die meisten. Doch dann verliefen die Störungen immer unrhythmischer. Immer öfter tickte sein Herz aus, manchmal mehrere Tage am Stück. "Da bekam ich Panik", sagt Stein. Weil auch seine Freundin sich immer mehr sorgte, versuchte er die Attacken vor ihr zu verbergen. "Lange dachte ich, ich kann das kontrollieren. Du denkst, es liegt am Rotwein, also trinkst du keinen Rotwein mehr. Dann keinen Kaffee, dann verzichtest du auf bestimmte Nahrungsmittel, am Ende sogar auf Kräutertee." Aber nichts half.
Er besuchte Infoveranstaltungen, auf denen er der Einzige ohne graue Haare war. Die Ärzte statteten ihn mit Langzeit-EKG aus. Um den Ärzten endlich etwas vorweisen zu können, ging er irgendwann mit seinen Freunden und dem EKG in der Tasche aus. "Ich sagte, Leute, ihr müsst mir helfen, trinkt mit mir." Auf dem Nachhauseweg ging es dann los. "Mission accomplished", dachte Stein.
Freude über das Flimmern
Zum ersten Mal freute er sich über das Flimmern. Endlich konnte sein Kardiologe eine Diagnose stellen. "Als der sagte, was es war, war ich wirklich erleichtert", sagt Stein. Trotzdem drückte er sich vor dem Eingriff.
Dann kam Venedig und noch schlimmer, eine Hand-Operation. Die hatte er sich beim Snowboarden gebrochen. Ein kleiner Eingriff, eine Metallplatte unter die Haut. Doch als er danach aufwachte, lag er auf der Intensivstation. Während der Operation hatte sein Herz verrücktgespielt. Die Schwankungen waren so extrem, dass die Apparate Herzstillstand anzeigten und die Ärzte in Panik gerieten. "Als ich da raus war", erinnert sich Stein, "packte ich meine Koffer und checkte in der Herzklinik ein." Das war im Frühjahr dieses Jahres.
Die OP lief nach Plan. Nun liege die Chance, dass er geheilt sei bei 80 Prozent, sagen die Ärzte. Vor ein paar Tagen hätte er einen Termin zur Nachuntersuchung gehabt. Benjamin Stein hat ihn vergessen. Denn geflimmert hat sein Herz schon länger nicht mehr.
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett