: Hochraffiniertes Bühnenkino
■ Kampnagel: Grandiose Premiere des Kindertheaters „Net Echt“
So ein Kindertheater hat die Stadt noch nicht gesehen. Beim KinderFest, das der Verein KinderKinder rund acht Wochen quer durch Hamburg veranstaltet, gastierte auf Kampnagel die holländische Produktion Net Echt. Dichte Atmosphäre ab der ersten Sekunde beim Guckkastenblick in eine bühnenbreite Stube. Lautes Uhrenticken, ein alter Mann erhebt sich, setzt sein Gebiß ein, quasselt vor sich hin. Bald wird die Szenerie zunehmend surreal. Unter dramatischer Begleitmusik tauscht der Alte seine Krücke gegen eine Monster-axt und fällt die Eiche vorm Fenster. Dem Baummord folgen Träume in Hochgeschwindigkeit.
Er wird jung, und seine längst verstorbene Liebste tanzt herein. Peter Zegveld und Beatrice van der Poel kichern und turteln unbeschwert, fast kindlich. Verständigung per Lautsprache. Von den Kindern begackerter Höhepunkt, als sich beide für die Bettruhe bis aufs schweinchenfarbene Ganzkörpertrikot mit Wollscham entkleiden, sie versehentlich seinen Schwanz abreißt und damit ein kleines Tänzchen wagt.
Am Morgen findet sich ein Riesen-Ei im Bett. Sie liebt's sofort, er eifersüchtelt. Fortan wird's noch furioser. Es beginnen Machtkampf, Streit und Mordgelüste. Das Ei entwickelt Eigenleben, pißt, tanzt, macht in einer kleinen Karre mobil. Bis es schließlich ausbüchst und in den riesigen Feuerofen rollt, der zuvor mit Bärenpuppentheater lockt. Schließlich wandelt sich der Alptraum vom straußeneigroßen Konkurrenten des Papas zum Familien-idyll mit echtem Baby.
Peter Zegveld, von dem auch Idee und Bühnenbild stammen, geht hochraffiniert auf mediale Sehgewohnheiten der Kids ein. Net Echt ist sowas wie Bühnenkino. Technische und optische Tricks setzen Theatertradition außer Gefecht. Dabei verströmt er mit seiner Partnerin echten Schweiß und holt eben doch die Geschichte über Familie, Eifersucht, Altern und Erinnerung auf eine lebensnahe Ebene. Und mit der stark abstrahierten Bildsprache schafft er einen hohen Anreiz, vermeidet schnelles Abtun durch Plakativität. Ein hochmodernes Theater, das auch Erwachsene atemlos zurückläßt.
Am 26. und 27. Oktober gastiert Peter Zegveld nochmals auf Kampnagel. Zusammen mit dem belgischen Ensemble für Neue Musik, Champ D'Action, bietet er ein szenisch begleitetes John-Cage-Konzert. Nach Net Echt läßt sich das blind empfehlen. Ludwig Hugo Nächste Veranstaltungen: „Klein – aber doch groß“; Märchen und Musik: Sa, 16, So, 11.30 + 16 Uhr, Markthalle „Juju“; Puppen-Schauspielertheater, Sa, 16, So, 11.30 + 16 Uhr, monsun theater
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