Hochbegabten-Schule St. Afra: Eliteinternat in schwerer Krise
Zehn Jahre nach Wiedergründung wankt das 35 Millionen Euro teure Landesgymnasium St. Afra. Die Schüler lästern, die Lehrer kritisieren "Einschüchterungspraktiken".
DRESDEN taz | Sogar auf den Dom und die Albrechtsburg zu Meißen blicken Kirche und Schule herab, die der Märtyrerin St. Afra geweiht sind. Den Göttern noch näher liegt am Berg oberhalb der Internatscampus, dessen schlichte Neubauten nicht gerade mit der hier konzentrierten Intelligenz, Fantasie und Kreativität korrespondieren. Denn St. Afra bildet nicht nur topografisch die Spitze der sächsischen Bildungslandschaft. 300 möglichst universell Hochbegabte sollen hier ihre Anlagen entfalten. Das Schulkonzept der Spezialanstalt für Schnelllernen soll auf ganz Sachsen ausstrahlen - und darüber hinaus.
Doch vor den offiziellen Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen im Oktober muss auch in der guten Stube des sächsischen Bildungswesens offensichtlich einmal aufgeräumt werden. Seit einem ersten kritischen Text in der Leipziger Volkszeitung ist die Schule in Aufruhr, die tägliche Diskussion im Internet entfacht. Die Schulleitung legt den Schülern nahe, nicht mehr mit dem Autor zu reden.
Am 9. August 2001 hatte das einzige staatlich getragene Elitegymnasium Deutschlands seine Tore geöffnet. Da war die große Zeit des sächsischen Nachwende-Mythos eigentlich schon vorbei, jener vor allem importierte Glaube daran, dass der Sachse quasi naturgesetzlich alles besser könne als andere. Die Idee einer Wiederbelebung der ehemaligen Fürstenschule stammt allerdings schon aus dem Jahr 1995, als die Regierung Biedenkopf nach dem Trockenbrot der Schulreform an das Kompott denken konnte.
Jene von Herzog Moritz 1543 im reformatorischen Geist fast zeitgleich mit Schulpforta und Grimma gegründete "fürstliche Landesschule" in Meißen musste auch eine katholisch dominierte Regierung zu Nachwendezeiten faszinieren - jedenfalls wenn sie aristokratische Attitüden pflegte. Satte 35 Millionen Euro ließ sich der Freistaat Internatsneubau und Sanierung des Schulgebäudes kosten, in dem zu DDR-Zeiten die Kulaken der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ihre Hochschulausbildung erhielten und das nach 1990 zunächst ein Kreisgymnasium beherbergte.
Weltgewandte Generalisten
"Christo Patriae Studiis" prangt in Goldlettern über dem Hauptportal. Dem Christus, dem Vaterland, dem bemühten Streben. Das "Sapere Aude" am Südportal trifft die Beschwörung des afranischen Geistes besser. Doch die neue Vorzeigeschule sollte nicht nur Weisheit wagen, sondern "Werbeträger eines innovativen deutschen Bildungssystems" werden. Die besten Lehrer, die besten Schüler möglichst aus ganz Deutschland. Gründungs-Schulleiter Dr. Werner Maria Esser brachte Erfahrungen in der Hochbegabtenförderung mit. Maria Degkwitz, Medienbeauftragte und engagierte Lehrerin für Katholische Religion, Latein und Theater nennt drei wesentliche Säulen des Konzepts: begabten Schülern einen maximalen Raum der Entfaltung bieten, ihre Heterogenität nutzen und in "verbundener Verschiedenheit" dennoch zu einer produktiven Gemeinschaft finden. In alle Welt entlassen werden sollen schließlich "educated persons", weltgewandte Generalisten, die sich auch sozialer Verantwortung bewusst sind. Dafür bietet St. Afra kleine Klassen, spezielle Formen wie Blockunterricht und eine Unterteilung in das möglichst komprimierte Fundamentum und das den individuellen Anlagen entgegenkommende Additum.
Diese Vorzüge wissen auch Schüler zu schätzen, die gegen die klösterliche Strenge des Internats rebellieren oder viele ihrer Lehrer als "Oberultradeppen" einstufen. 50 Lehrer, von denen 17 ständig im Internat leben und die hier allesamt Mentoren genannt werden. Abiturient Fridolin aus Österreich hatte in den letzten Monaten Hausverbot und schrieb in seinem ätzenden Beitrag zum jährlichen Abiturbuch vom täglichen "rumgedümpel vom frühkonzil zur hausversammlung" und von der Entscheidung "zwischen lebendiger leiche und freigeist". Der unbedingte Typ mit wehender Mähne, barfuß laufend, blickt dennoch versöhnlich zurück.
"Man geht nicht nach St.Afra, um einen besonderen Abschluss zu haben, sondern wegen einer tollen Schule in einer tollen Umgebung, in der man sich entwickeln kann." Frido hat unter anderem die Veranstaltungsagentur "afrophon" gegründet, um die "Inselmentalität" des Berges aufzubrechen. Die Meißner nennen die abgehobene Bildungseinrichtung nur "das Raumschiff".
"Man findet immer Leute, die etwas mitmachen, egal ob Stuss oder Kreatives", lobt auch Lara, die sonst viel Bedenkliches über die abgekühlte Atmosphäre an der Schule berichtet. Mit 16 Jahren springt sie jetzt an eine internationale Schule in Hongkong ab, wofür ihr St. Afra das Rüstzeug mitgab. Immer wieder stößt man auf diese Ambivalenz. Die Schüler wissen, dass sie an einem exorbitanten Anspruch gemessen werden, wollen aber eigentlich ganz normale Menschen sein. Die strengen Internatsregeln mit Alkohol-, Rauch- oder Handyverbot aber fordern Überdurchschnittliches und Unterordnung unter die Gemeinschaft. "Für uns Jugendliche ist klar, dass wir uns nicht an die Regeln halten, auch wenn wir sie im Grunde wollen und aufstellen. Wir leben halt chaotisch, wild und frei", erklärt Lara. Die Übertretung der Regel darf aber selbst nicht wieder zur Regel werden, heißt es sinngemäß in einem bemerkenswerten Kursartikel des Abibuches. Schon 2008 wurde laut Protokoll im Elternrat diskutiert, "ob diese Regeln so noch zeitgemäß sind".
Von "normalen" Problemen anderer Internate oder Schulen ist auch das Vorzeigegymnasium nicht frei. Es sind immer Einzelfälle, aber Schüler berichten von Drogen, Alkohol, Diebstahl, Mobbing, autistischen Kindern und vom Ritzen der eigenen Haut unter psychischem Druck. Im Mai drohte ein fast Achtzehnjähriger im Internet mit einem Amoklauf, scherzhaft zwar, aber von der Schulleitung sehr ernst genommen.
Eltern wollen deshalb verständlicherweise über ihre schon ab Klasse sieben aufgenommenen Kinder, die sie nur aller drei oder vier Wochen sehen, Bescheid wissen. Doch sie fühlen sich immer schlechter informiert. "Der Elternrat fordert von der Schul- und Internatsleitung eine Informations- und Kommunikationskultur, die diesen Namen verdient", schrieb Elternratsvorsitzende Kristin Haas Mitte Juni. Lehrerin Maria Degkwitz beobachtet allerdings auch einen Trend zu "Law and Order" und schließt darin den Hang zu elterlicher Übervorsorge ein.
Besorgte Anhänger des Afra-Konzepts bringen die bedenkliche Entwicklung in Zusammenhang mit dem Amtsantritt von Dr. Ulrike Ostermaier als Schulleiterin im Jahr 2008. Nach ausbleibenden Bewerbungen ins Amt gedrängt, verwalte sie nur und inspiriere kaum, heißt es. Man könne sich mangels Profil "nicht einmal an ihr reiben", sagt eine Mutter. Auch bei den Schülerbewertungen im Abibuch schneidet die Schulleitung auffallend schlecht ab. Andererseits wurde schon zum Ende der Ära Esser im Elternrat beklagt, "dass der zu beobachtende Werteverfall von Jahrgang zu Jahrgang stärker wird".
Die reine Statistik der vergangenen drei Jahre rechtfertigt indessen wohl Sorge, aber noch keinen Alarm. Die Zahl der Bewerber schwankte stets, lag 2002 allerdings schon einmal bei zweieinhalb Anwärtern pro Platz. Seit 2009 sinkt sie stetig und liegt in diesem Jahr noch bei 77 für die knapp 50 Plätze pro Jahrgang. Seit 2008 ist auch der Abiturdurchschnitt leicht von 1,6 auf 1,8 gesunken. Schwerer wiegt der angeschlagene Ruf. "In Sachsen laufen die Spezialgymnasien mit vertiefter Ausbildung St. Afra inzwischen den Rang ab", stellt Frank Haubitz als Vorsitzender des Philologenverbandes fest. Sächsische Gymnasiasten zeigen offenbar immer weniger Interesse. Bundeswettbewerbe gewinnen können andere auch. Zum erhofften methodischen und konzeptionellen Austausch mit den Regel-Gymnasien ist es nicht gekommen.
Nicht gerade eine Werbung ist auch die verstärkte Fluktuation im Kollegium. Es wird schwerer, noch Personal zu gewinnen, wenn auch die 24-Stunden-Tätigkeit als Internatsmentor im Vergleich zu verbeamteten westdeutschen Lehrern oder gar mit privaten Elitegymnasien deutlich geringer bezahlt wird. Marcus Ventzke und Andreas Dietz, zwei 2009 ausgeschiedene Mentoren, sprechen sogar von "verbrannten" jungen Lehrern. Und sie gehen ins Grundsätzliche: "Es ist ein Widerspruch, ,Freiheit für Persönlichkeit' zu propagieren, Mentoren jedoch gleichzeitig den vormodernen Gängelungs- und Einschüchterungspraktiken einer traditionellen Bildungsverwaltung auszusetzen." Lehrerin Maria Degkwitz deutet vorsichtiger die "vielen Gefahren für eine seltene Pflanze" an, die "von den Gewohnheiten in Pädagogik und Politik erstickt werden kann". "Afra verschult", sagt bündig Ilona Stoye, Mutter von zwei Afra-Kindern.
Kinder von Ministerialbeamten
Ob die aufgenommenen Kinder wirklich immer Mehrfach-Hochbegabte sind, bezweifeln inzwischen auch Mitschüler. Es fällt auf, dass unter ihnen zunehmend Kinder von Ministerialbeamten sind - etwa der Sohn des Regierungssprechers. Aber auch solche Schüler sind neuerdings nicht vor dem Sitzenbleiben gefeit.
Dietz und Ventzke stellen inzwischen sogar den konzeptionellen Mix der Gründungsväter von St. Afra in Frage. "Ein bisschen Elitedenken, eine kleine Portion Salem, ein wenig Reformanstalt, eine Prise Spezialschule und nicht zuletzt das weitverbreitete Ressentiment gegen die ,normale' staatliche Schule", schreiben sie. "Was will diese Schule für Sachsen leisten?", hinterfragt auch die ehemalige sächsische Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange (SPD) das Konzept. Einen Gewinn für den Freistaat kann sie an dem "Relikt aus alter Zeit" nicht erkennen.
Viele Eltern verteidigen dennoch den Weg nach St. Afra, wenn sie meinen, an der Regelschule keine Angebote für ihre "positiv behinderten" Hochbegabten gefunden zu haben. Sie halten die Kritik zwar für zutreffend, fürchten aber nun um noch weiter sinkendes Interesse an der fürstlichen Schule. "Alle haben sich dort am Riemen zu reißen", sagte Kultusminister Roland Wöller (CDU) nach Gesprächen an der Schule. Die Kommunikationsprobleme hält er inzwischen für ausgeräumt, St. Afra sieht er "auf gutem Weg". Dafür wünscht sich Maria Degkwitz aber "mehr Mitstreiter, die auch öffentlich entflammt sind".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe