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Hitler zurücknehmen

„Alles wird untergehen in einem summarischen ,Jahrhundert der Barbarei.‘“ Jean Améry, der diesen Satz 1966 schrieb, war ein Überlebender. Aus Auschwitz brachte er auf dem linken Unterarm die Nummer172364 mit – und seine „Ressentiments“, die er in dieser von Horst Meier neu herausgegebenen und mit einem Essay versehenen Rundfunkrede zu untersuchen und zu verteidigen unternimmt.

Welch ein seltsames Buch: Der knapp seinen Folterern Entronnene erklärt ihnen und ihren Nachfahren seinen Haß auf sie. Es kommt heute gerade recht – in einer Zeit, in der die Nachfahren der Folterer und Mörder in ihrem Land den Opfern ein Denkmal setzen wollen und langsam zu spüren beginnen, daß dies ein Unternehmen voller Paradoxien ist. Jean Améry legt Zeugnis ab von seiner Unversöhnlichkeit. Wenn unser Bewältigungsbetrieb nicht in die Taktlosigkeit abgleiten soll, wie es ja noch oft genug geschieht, muß ihm die Anerkennung der Ressentiments der Opfer, die bald nur noch in Dokumenten wie diesem zugänglich sein werden, zugrunde liegen.

Aber es geht nicht nur um Taktfragen. Jean Amérys Reflexion führt zu dem weitgehenden Schluß, Ressentiments seien die „Emotionsquelle jeder echten Moral, die immer eine Moral für die Unterlegenen war“. Diese Lehre ist insofern Nietzsches Psychologie verpflichtet, als sie sie umkehrt: „Die moralische Wahrheit der mir noch heute im Schädel dröhnenden Hiebe besaß und besitze ich nur selber und bin darum im höheren Maße urteilsbefugt, nicht nur als der Täter, sondern auch als die nur an ihren Bestand denkende Gesellschaft. Die Sozietät ist befaßt nur mit ihrer Sicherung und schert sich nicht um das beschädigte Leben: Sie blickt vorwärts, im günstigsten Fall, auf daß dergleichen sich nicht wieder ereigne. Meine Ressentiments aber sind da, damit das Verbrechen moralische Realität werde für den Verbrecher, damit er hineingerissen sei in die Wahrheit seiner Untat.“

Der vom Ressentiment besessene Mensch ist an die Vergangenheit gefesselt, die er ungeschehen machen will. Er kommt nicht los von dem absurden Verlangen, was geschehen ist, möge ungeschehen gemacht werden, in diesem Fall: Hitler möge zurückgenommen werden. Da dies nicht in jenen zwölf Jahren geschah, in denen es hätte geschehen können, wird es niemals geschehen können: „Ein Volk, das Hitler zu Lebzeiten nicht austrieb, muß ihn immer neu überwältigen“, schreibt Horst Meier. Um das Verlangen nach Zeitumkehr zu kreisen, so Améry, bedeutet für die Opfer eine Verlängerung des Erlebnisses der Verfolgung, „das im letzten Grunde das einer äußersten Einsamkeit ist“.

Um die „Erlösung aus dem noch immer andauernden Verlassensein von damals“ ging es Améry. Sie ist ihm zeitlebens nicht zuteil geworden; es konnte wohl nicht sein. Seine unversöhnliche Analyse der eigenen Unversöhnlichkeit ist eine Grundschrift für die Zeit, die jetzt mit lauten Denkmalstreitigkeiten eingeläutet wird: eine Zeit des Gedächtnisses ohne Augenzeugen.

Jean Améry: „Ressentiments. Rede im Süddeutschen Rundfunk am 7. März 1966“. Mit einem Essay von Horst Meier. Europäische Verlagsanstalt, Reden Band 18, 96 Seiten, geb., 26 DM.

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