Hinterm Horizont geht's weiter

Über den Maler und Bildhauer Rainer Görß und das Ende der Autoperforationsartisten  ■ Von Andre Meier

9. November 1989: Während das Mitglied des Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Informationssekretär des Zentralkomitees Günter Schabowski um 18.57 Uhr auf einer Pressekonferenz zum Verlauf der 10. Tagung des ZK der SED, den Beschluß über die Öffnung der Grenzübergänge zur Bundesrepublik Deutschland und nach West-Berlin bekannt gibt, sitzen vier junge DDR- Künstler bereits beim Chinesen am U-Bahnhof Möckernbrücke, speisen und streiten sich um das Szenario ihrer ersten Performance im nichtsozialistischen Ausland. Else Gabriel, Volker Lewandowsky, Micha Brendel und Rainer Görß gehörten nicht zu den Ostberlinern, die noch am selben Abend zu Tausenden die Grenzübergänge stürmen und schließlich von den überraschten Posten in den Westteil der Stadt gelassen werden. Die selbsternannten Autoperforationsartisten haben schon im Oktober von der Reisestelle der Verbandes Bildender Künstler der DDR ihre Pässe erhalten, um mit weiteren 39 Jungkünstlern und Künstlerinnen dem Aufbau und der Eröffnung der Ausstellung Zwischenspiele beizuwohnen.

Bereits im Sommer 1989 zogen deren Organisatoren, die Geschäftsführerin der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst e.V. (NGBK) Christiane Zieseke und die Westberliner Kunsthistorikerin Beatrice Stammer durch das realsozialistische Deutschland, um eine Auswahl »DDR-Kunst« zusammenzustellen, die mit dem durch die Aktivitäten so rühriger bundesdeutscher Galeristen und Sammler wie Brusberg oder Ludwig in mehr als zehn Jahren im Westen kultivierten Bild, brechen sollte. Und so hoffte auch der Präsident der NGBK, der damalige Chef der Hochschule der Künste und jetzige Gesamtberliner Kultursenator, Ulrich Roloff-Momin, in seinem Katalogvorwort, mit der Ausstellung in Kreuzberg in den Köpfen derjenigen »anzuecken, die Kunst aus der DDR immer noch unter ideologischen Gesichtspunkten betrachten und damit abwerten.« Momin will »die Vielfalt zeigen, die im anderen deutschen Staat der bildenden Kunst herrscht«, und damit »ein neues Kapitel in der Betrachtung der gegenseitigen Kunstszene« aufschlagen. Und so durften natürlich auch nicht die Autoperforationsartisten fehlen, die in den letzten zwei Jahren der geschlossenen DDR mit ihren Auftritten in der Akademie-Werkstatt, auf der Brühlschen Terrasse und während der 30tägigen Permanenten Kunstkonferenz in der Galerie Weißer Elephant für Furore sorgten. Auch sie sollten, wie der VBK-Vizepräsident Peter Pachnicke betonte, »in einer Zeit, deren Klima die Besorgnis nährt, daß unsere Beziehungen erneut in der Kälte der fünfziger Jahre erstarren könnten«, zeigen, was in der DDR »geleistet und gearbeitet wird«.

Was aber die vier jungen DDR- Künstler in West-Berlin wollen, steht leider nicht im Katalog. Doch ihre Performance So tröstet uns Beständigkeit, die sie in der Elefanten Press Galerie am Tag drei nach dem Mauerfall aufführen, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie alles Mögliche, nur nicht die avantgardistische Garnierung eines gerontologischen Staatsgebildes sein wollten: Der nackte Lewandowsky kroch, eine weiße Flagge im Arsch und eine Orange zwischen den Zähnen, über den Galerieboden, während Micha Brendel, seinen Reisepaß um den Hals geschnürt, ein Heizungsrohr emporhangelte. Mit den Zähnen zerpflückte der diplomierte Bühnenbildner ein rohes Steak und schleuderte die Fleischstücken ins Publikum. Aber war das noch DDR-Kunst? Ließen sich doch diese beiden Autoperforationsartisten sich schon Tage vor dem 9. November im Aufnahmelager Marienfelde als Übersiedler registrieren und auch Else Gabriel, die an diesem Abend vergeblich versucht, einen zerfetzten Berlin-Plan mit Klebestreifen der Einheit zuzuführen, hatte durch ihre im September 89 vollzogene Heirat mit dem Sänger und Titanic-Kulumnisten Max Goldt ihren Abschied aus der DDR eingeleitet. Lediglich Rainer Görß ist an diesem 12. November noch Vollostler und hat die Hoffnung nicht aufgegeben »die Flamme des Aufruhrs in den Westen« tragen zu können. Mit einem Koffer in der Hand zog er durch Galerien in der Kreuzberger Oranienstraße, kaute Kohlenanzünder, vergoß Spiritus und tanzte mit brennenden Füßen in Cola-Pfützen.

Während Lewandowsky, wie er heute betont, schon Jahre vor der Maueröffnung nur noch an Konzepten für die anvisierte Arbeit im Westen saß und sich – aber hier trägt er wirklich etwas dick auf – dem offiziellen Kulturbetrieb verweigerte, stand für Görß die Frage der Ausreise nie: »Ich habe die DDR nicht verlassen und hätte sie auch nie verlassen. Hier kehren die Gebäude eher zur Erde zurück.« Doch gehörte auch Görß schon einer neuen DDR-Künstlergeneration an. Diesen um oder nach 1960 Geborenen war das System, in dem sie lebten, so egal, daß sie sich auch herzlich wenig um seine Läuterung kümmerten. Else Gabriel, die im Herbst 1990 gemeinsam mit Johannes Heisig, Angela Hampel und anderen »jungen« Ex-DDR-Künstlern in den USA ausstellte und wohl auch diskutierte, bemerkte nach ihrer Rückkehr lakonisch: »Das war nicht uninteressant. Diese sozial engagierte Künstlerschaft in der DDR hat tatsächlich geglaubt, die DDR ist ihre Aufgabe. Ich will das ja nicht abtun. Aber das war wirklich eine harte Nuß.« Und Micha Brendel schließlich spricht vom »glücklichen Zufall«, in einer repressiven Gesellschaft gelebt zu haben, in der die Dinge, die in ihm, dem Künstler, angelegt waren und das Umfeld ein »ganz explosives Gemisch ergaben«. So schwingt bei allem Zynismus auch Realitätssinn mit, wenn er in einem Interview erklärt: »Ob ich, wenn ich unter Kokosnüssen am Strand von Tahiti aufgewachsen wäre, ähnliche Sachen gemacht hätte, weiß ich nicht. Deshalb kann man ja dem alten System fast dankbar sein, daß es diese künstlerische Entwicklung unterstützt hat.«

Zwar lebt auch Brendel jetzt noch nicht unter Kokosnüssen, doch ist das politische System, das den Aktionen der vier Autoperforationsartisten die publikumswirksame Untergrund- Aura verlieh und politischen Interpretationsansätzen Tür und Tor öffnete, verschwunden. Was bleibt ist die Erinnerung und von der konnte man auch eine Zeitlang leben, wenn man die Spielregel befolgte, sich beeilte und sie nur ordentlich beutelte. Und so erfahren erst heute die, die selbst dabei gewesen sind, wie schlimm es eigentlich war: »Da der sozialistische Realismus zur offiziellen Staatskunst erhoben war, wirkte alles, was abstrakt oder nicht monströs-verherrlichend gestaltet war, automatisch suspekt«, schreibt Peter Münder im 'Zeit-Magazin' und greift sich den Dresdner Diplom-Maler und Aktionisten Holger Stark, um das Grauen mit dem Satz »Wie oft er von Stasi-Leuten und der Vopo wegen seiner ungewöhnlichen Performance- Aktionen schon festgenommen und auf Polizeiwachen bedroht wurde, weiß Stark nicht mehr« abzurunden.

Ihren letzten gemeinsamen Auftritt hatten die Autoperforationsartisten im Januar 1990. Noch einmal formierte sich die Gruppe, um den Parisern im alten Schlachthof »La Villette« gemeinsam mit zweihundert anderen Malern, Musikern, Bildhauern, Fotografen und Designern Das andere Deutschland außerhalb der Mauern vorzuführen. Für Rainer Görß war dieser Auftritt der nun wirklich letzte und auch der »schon mehr eine Verpflichtung«, schließlich hatte an der Konzeption neben Christoph Tannert auch Volker Lewandowsky mitgewirkt. Der ist inzwischen und nach der Verlegung seines Ateliers, der »Freien Praxis«, von der Dresdner Friedrichstadt in die Nachbarschaft der Moabiter Justizvollzugsanstalt für Frauen, zum erfolgreichsten Ex-DDR-Jungkünstler avanciert und gerade zu einem einjährigen Studienaufenthalt nach New York aufgebrochen. Bei dem großen Berliner Freiluft-Ausstellungs-Flop Die Endlichkeit der Freiheit fungierte Lewandowsky tapfer als DDR-Feigenblatt und sogar Frau Annemarie Renger und die Ankaufskommission der Deutschen Bundestages investierten in seine großformatigen, eisengerahmten Collagen, die er Reproduktive Malerei nennt und bei denen es sich im wesentlichen um Collagen von Zeichnungen aus einem an skurrilen Motiven schier unerschöpflichen medizinischen Handbuch aus dem Jahr 1938 handelt. Und trotzdem will Lewandowsky bislang auf das Autoperforieren nicht verzichten. Das kann auch Brendel nicht, wenngleich sich für ihn »die Gruppenperformance weitestgehend erledigt hat«, doch »wenn man es ehrlich gemeint hat, kann man nicht über Nacht auf irgend etwas anderes umschwenken.«

Görß dagegen widmet sich jetzt ausschließlich der Malerei und aufwendigen Installationen. Für ihn war schon im November 1989 auf der Straße so viel Absurdität, daß er es aufgegeben hat, sie aktionistisch zu übertrumpfen. Zwar reizte auch er den »Aufmerksamkeitskredit«, der den DDR-Künstlern nach dem Fall der Mauer vom westlichen Kulturbetrieb gewährt wurde, aus und hatte allein von November 89 bis März 91 über zehn Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Doch unterschieden sich die dort präsentierten und nach dem Zusammenbruch der DDR entstandenen Arbeiten kaum von seinem Vorwendeeouvre.

Der 1960 in Mecklenburg geborene Rainer Görß signalisierte schon Anfang der achtziger Jahre mit seinen land-art-Übungen, daß er sich kaum der damals aus Leipzig über das Land herfallenden neoexpressiven Malerschar anschließen würde. Görß' Malerei war von Beginn an frei von figurativen Konzessionen. Vielleicht erinnern die Tafeln in ihrer Zeichenhaftigkeit an die Arbeiten Emil Schumachers. Und auch Görß hat, ähnlich Schumachers raumgestaltenden 64er DOCUMENTA-Bildern, spätestens mit seiner opulenten Midgard-Inszenierung bewiesen, daß seine schrundigen und aufbrechenden Farbschichten mehr sein wollen als in sich ruhende Welten. Aber es war gerade jene aufwendige Schau, die er als Diplomarbeit im Sommer 1989 im Kellergewölbe der »Zitronenpresse« auf der Brühlschen Terrasse inszenierte, die zugleich zeigte, daß der Mann, der hier Malerei, Plastik, Musik und Aktion mit einer Bayreuth nicht fremden Perfektion zusammenführt, nicht nur Kunst studiert hat: Alle kosmopolitischen Kulturtheorien ignorierend, wühlt Görß nach sinnlichen Archetypen und pflastert die Räume mit den Zeugen versunkener Mythen und gestrandeter Ideologien auf der Suche nach einer Genesis der Weltbilder. Er entwickelt einen Leitfaden durch das »Diorama Midgard«, den der Avantgarde-Musiker »Flugzeug« vertont und der den Gang durch die »Kopfkonstellation eines Mitteleuropäers« erleichtern soll. Doch Dank seiner introvertierten Poesie, ist der alles, nur dem Betrachter kein Führer. »Vom Standpunkt der Antike aus öffnet sich der Blickwinkel auf den Deutschen Wald im Norden und auf das aus der eigenen Position erwachsene Kreuz des Frühchristentums.«

Wenige Monate später notiert Görß im Arbeitsjournal, seiner seit Jahren geführten literarisch-philosophischen Aphorismensammlung: »In den Altlasten der Zentralperspektive liegt dort ein Stück des kategorischen Imperativs, des Vater-Staat-Prinzips, mit seinem angeblichen Wissen vom Woher und Wohin. Das ist das Zaubermittel jeder barocken Allee, an deren Ende die Fäden am Nabel des Mannes der Macht zusammenlaufen. Wer sich in die Mitte stellt, wird durch die Mitte umkommen.« Das war im November 1989, in den Wochen, als Görß gemeinsam mit seinem Freund und Künstlerkollegen Peter Dittmer versuchte, bei den »Vereinigten Linken« Gehör für über den parteipolitischen Tellerrand reichende Denkansätze zu finden. Doch vergeblich und so sah man beide schon im März des folgenden Jahres anstatt auf der Kandidatenliste zur Volkskammerwahl, bei der Frankfurter Kunstmesse, am Stand von Gerd Harry Lybke, der mit den Künstlern seinen Einstieg in die Welt des internationalen Handels zelebrierte. Die Mainzer 'Allgemeine Zeitung' verkündete die »leibhaftige Auferstehung Beuys'«, die Schweizer 'Weltwoche' eine »böse Vision, die Sprenglers Apokalypse, der »Untergang des Abendlandes«, mit heutigen Kunstmitteln ausbreitet« und die 'Offenbach-Post' gibt den Ratschlag: »Wer Vergleiche mit Beuys anstellt, möge bedenken, daß dieser sich nicht mehr wehren kann, selbst wenn er es wollte.« Dabei haben Görß und Dittmer mit dem ausgestellten Frankfurter Altar und dem ihm zugeordneten »Rauschen« nur versucht, eine zweiteilige Arbeit abzuliefern, die die beim Midgard-Projekt eingefangenen Erkenntnisse um die Enttäuschungen der jüngsten deutschen Geschichte ergänzt: »Zwischen links und rechts der Kurzschluß der Pole im Kreis der Politik«. Im Altar, neben vielen anderen das Publikum irritierenden Details, auch das Kulturbild.

Seit 1986 züchtet Rainer Görß auf Tafelbildern Schimmelkulturen, die sich kontinuierlich aus ihrem eigenen Erbgut reproduzieren und in verschiedenen Niederlassungen »ihr Aufgehen, ihre Blüte und ihren Niedergang« erleben dürfen. Während einer Aktionsnacht im Herbst 1988 an der Dresdner Akademie knetete Görß im Verlauf der 10-Stunden-Autoperforationartisten-Performance Panem et Circensis das Brotrindenhirn. Im Fäulnisprozeß wird auch dieses Kunstobjekt zum Nährboden für neue Kulturen. Und die begleiten den Künstler, zu Bildern gereift oder als Kleinstmenge unter den Fingernägeln (so beim innerdeutschen Grenzübertritt zur Ausstellung Zwischenspiele) bei seinen Auftritten. Görß' Vorliebe für organische Prozesse verbindet sich in jüngster Zeit mit der Suche nach den Strukturen, die diese Welt im Innersten zusammenhalten. Waren es früher vor allem die großen metaphysischen Konstruktionen, die ihn künstlerisch zu analytischen Versuchen animierten, so geht er jetzt in den Mikrokosmos. Schon bei seiner 1990er Ausstellung In den Anlagen, in Gerd Harry Lybkes neuer Leipziger »Eigen+Art«, präsentierte Görß rasterelektronenmikroskopische Fotografien. Doch nicht nur die hauseigenen Schimmelkulturen legte er unter das Mikroskop; In der inzwischen aufgelösten Akademie der Wissenschaften ließ der Künstler eine Blutprobe zweitausendfach vergrößern und fotografieren. Nun steht er und stehen wir vor seinen abgelichteten präparierten DNA-Strängen und sehen in bizarre Wirrwarr einer genetischen Künstler-Struktur.

Als Görß sich im März 1988 zu Ader ließ, und an eine Fensterscheibe der Akademie der Künste der DDR mit Blut »Farbe ist mehr als Farbe« schrieb, hielt der Kulturwissenschaftler Thomas Kumlehn diese Geste nur für ein »bedeutungsmäßig überfrachtetes, existentielles Ausrufezeichen«. Und recht hatte er, denn der eigentliche Horror beginnt erst dort, wo sich die Kunst mit den weißen Kitteln der Wissenschaft paart.

Rainer Görß wurde als einziger Künstler aus der DDR von Christos M. Joachimides für die Ausstellung Metropolis im Martin-Gropius- Bau ausgewählt. (Interview mit dem Ausstellungsmacher im überregionalen Kulturteil)