: Hilfe zur Selbsthilfe – neu definiert
Millionenbeträge, mit denen die EU humanitäre Hilfe in Bosnien und im Afrika der Großen Seen finanzieren sollte, flossen statt dessen in die Gehaltskonten von Verwandten gut plazierter EU-Angestellter ■ Aus Brüssel Alois Berger
Das Europaparlament hat die EU-Kommission gestern erneut aufgefordert, endlich den vollständigen Bericht über ihren jüngsten Betrugsskandal herauszurücken. Die EU-Kommission hält nach wie vor einen Teil des Berichts zurück, offiziell aus Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen. Die Europaabgeordneten hegen allerdings den Verdacht, daß die EU-Kommission die Verfehlungen hoher Beamter decken will. Nach Ermittlungen der kommissionsinternen Antibetrugseinheit Uclaf hat die EU-Abteilung für humanitäre Hilfen 1994 und 1995 mit der Luxemburger Firma Perry-Lux vier Scheinverträge über fünf Millionen Mark abgeschlossen.
Das Geld war für Maßnahmen in Bosnien und das Gebiet der Großen Seen in Afrika bestimmt. In Wirklichkeit aber hat Perry-Lux damit externes Personal der EU- Kommission in Brüssel finanziert. Knapp eine Million floß in bisher unbekannte Kanäle.
Der Skandal hat viele Schichten. Die Firma Perry-Lux ist eine von vielen Agenturen, die gegen Geld Aufgaben der Kommission übernehmen. Wenn Brüssel beispielsweise einige Millionen für die Flüchtlingshilfe in Ruanda bereitstellt, dann hat sie nicht das Personal, um selber in Ruanda Zelte aufzustellen. Sie beauftragt das Rote Kreuz, Caritas oder auch private Firmen, das zu übernehmen. Das ist auch in nationalen Ministerien üblich. Doch die EU-Kommission hat diese Praxis offensichtlich auch dazu genutzt, zusätzliches Personal in Brüssel einzustellen, das ihr sonst nicht genehmigt worden wäre. Zwischenzeitlich soll die EU-Kommission bis zu 600 solcher „U-Boote“ beschäftigt haben.
Bis zu 600 „U-Boote“ im EU-Apparat
EU-Kommissionspräsident Jacques Santer verteidigte die „akrobatischen“ Haushaltspraktiken seiner Beamten vor dem Europaparlament mit dem Hinweis auf die immer neuen Aufgaben der EU-Kommission. Vor allem Anfang der 90er Jahre hätten die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten der Brüsseler Behörde eine Reihe neuer Maßnahmen zur humanitären Hilfe aufgetragen, ohne das Personal entsprechend aufzustocken. Es habe deshalb einen „Zwang“ gegeben, Personal anderweitig zu finanzieren.
Die Europaparlamentarier fühlen sich durch die unkonventionelle Personalpolitik nicht nur hinters Licht geführt. Sie protestieren auch gegen die Art und Weise, wie die EU-Kommission jetzt mit der Aufklärung umgeht. Das Parlament wirft einzelnen Kommissaren vor, die Verantwortlichen zu decken und die Auswirkungen zu vertuschen.
Damit die ganze Sache nicht auffällt, hat die für humanitäre Hilfe zuständige Abteilung offensichtlich insgesamt darauf verzichtet, von den privaten Firmen vollständige Belege für deren Kosten zu verlangen. Die Antibetrugseinheit Uclaf bemängelt, daß Hunderte von Millionen Mark ohne nachträglich kontrollierbare Belege ausgezahlt worden seien.
Zumindest im Fall von Perry- Lux hat die hemdsärmelige Zahlungspraxis der EU-Kommission ein überaus günstiges Klima für Korruption und persönliche Bereicherung geschaffen. Claude Perry, der Chef des Unternehmens, behauptet sogar, er sei von hohen Kommissionsbeamten geradezu gezwungen worden, deren Verwandte und Bekannte bei der Einstellung externen Personals für die EU-Kommission zu berücksichtigen.
Betrugspraxis war von höchster Stelle gedeckt
Tatsache ist, daß zum Beispiel die Frau des für Afrika und Jugoslawien zuständigen Abteilungsleiters, Hubert Onidi, sowie zwei Studienfreunde seines Sohnes auf diese Weise lukrative Arbeitsverträge bei der EU-Kommission bekamen. Mit anderen Worten: Onidi bewilligte die Millionen für Perry-Lux, und die schleuste das Geld in die Verwandschaft.
Die zentrale Frage für das Europaparlament ist heute, welche EU- Kommissare wieviel von dieser Praxis gewußt und gedeckt haben. Vor allem der spanische Kommissar Manuel Marin und die Französin Edith Cresson stehen im Fadenkreuz. Cresson hat sich mehrfach mit Perry getroffen, und Marin war in den fraglichen Jahren für humanitäre Hilfe zuständig.
Claude Perry, dessen Büroräume derzeit von der Luxemburger Staatsanwaltschaft durchwühlt werden, ließ durchblicken, daß er gegen beide etwas in der Hand habe. Perry fühlt sich als verfolgte Unschuld, der nur getan hat, was alle getan haben. Jeder habe gewußt, daß man ohne Gegengeschäfte schwer an EU-Aufträge herangekommen sei.
EU-Kommissionspräsident Jacques Santer wehrt sich gegen den Vorwurf, seine Behörde behindere bewußt die Aufklärung. Immerhin sei der Fall Perry-Lux durch die eigenen Betrugsfahnder ans Licht gekommen. Um den aufgebrachten Abgeordneten des Europaparlaments etwas Wind aus den bedrohlich geblähten Segeln zu nehmen, versprach er, die Betrugsfahndung in ein unabhängiges Amt auszugliedern. Das war eine der Hauptforderungen der Parlamentarier, damit die EU-Kommission die Veröffentlichung unangenehmer Berichte nicht mehr verhindern könne.
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