: Hilfe, die Glotze läuft
Probleme mit der „reality“: Fernsehen braucht keine Überwacherinstanz, sondern wache Kritik ■ Von Harry Nutt
Das Fernsehen ist unser liebstes Kind, und Medienwissenschaftler wissen längst, daß es für die Alltagskommunikation immer wieder neuen Gesprächsstoff liefert. Es funktioniert als selbstreferentielles System, in dem jeder jeden fortwährend einlädt und man sich gegenseitig an Sport, Spiel und Spannung teilhaben läßt. Der Showmaster den Schau- und Fußballspieler, den Politiker und Zuschauer, und immer so weiter im Kreis herum.
Immer häufiger nimmt auch der Kritiker vor der Kamera Platz, wenn er nicht schon im Fernsehsessel davor sitzt. Ob Gottschalk besser ist als Lippert und beide nichts zu tun haben mit Kulenkampff oder umgekehrt, gehört zum beliebten Fragespiel in der Nachberichterstattung der Boulevardpresse, die sich gern auch schon einmal in Personalfragen einmischt. Frank Elstners inzwischen abgesetzte Spielshow „Nase vorn“ war am Tag danach jeweils der sportlichen Einzelkritik ausgeliefert. Die Ungeheuerlichkeit, daß Wolfgang Lippert Paul McCartney einen Schweißtropfen von der Stirn wischte, wurde erst jüngst zu einer Frage der allgemeinen Fernsehkritik. Nicht zum Schaden von Lippert übrigens, der in der nachfolgenden Sendung pointenreich darauf Bezug nehmen durfte. Wer übrigens hat gesehen, daß Rod Stewart sich am Sack gekratzt hat? Bisher ist kaum abzusehen, welche Folgen diese sexistische Geste des Rockstars für das Fernsehen haben wird. Wenn dem Talk-Gefasel die Themen ausgehen, dann spricht man am liebsten über sich selbst.
„Macht das Fernsehen dumm?“ fragte kürzlich die Sat1-Talk-Show „Talk im Turm“, wußte allerdings kein abschließendes Ergebnis kundzutun. Wie sollte sie auch, wenn die Infamie des Mediums sich erst so langsam voll zur Geltung zu bringen versteht. Oder kann es daran liegen, daß der kritische Mensch nur mit schlechtem Gewissen den Knopf einschaltet und am liebsten gleich wieder wegzappt, wenn ein ehemaliger Sportreporter mit rührender Einfühlsamkeit fleht: „Bitte melde dich“. Das bundesrepublikanische Feuilleton indes muß die Aufforderung wörtlich genommen haben, denn kaum ein verantwortlicher Redakteur hat die Meldepflicht in den Printmedien in den Wind geschlagen.
„Die Grenzen der Fernsehwirklichkeit“ hatte Ulrich Schulze seinen Kommentar im Tagesspiegel am 20.3. überschrieben und seinem Entsetzen über einige Kostproben des als Neuheit angepriesenen „reality-TV“ Luft gemacht. Sie haben ihm nicht geschmeckt, und weil Mutti gerade nicht da war, rief er nach anderen Ordnungsmächten. „Da die freiwillige Selbstkontrolle versagt hat, müssen andere Instrumentarien zur Wiederherstellung des Anstands und der sittlichen Normen geschaffen werden. Das Gesetzgebungsmonopol liegt beim Staat. Er muß seine Autorität und Souveränität dokumentieren und dabei über den Verdacht, er könne zu einer Art Zensurbehörde werden, erhaben sein. Die Justiz als dritte Gewalt im Staate hätte darüber ebenso zu wachen, wie sie energischer gegen Verstöße vorgehen müßte. Einem international zusammengesetzten Forum müßte die Kompetenz zuwachsen, Filme auch vom Markt zu nehmen, wenn deren Inhalte den geringsten sittlichen Empfindungen nicht entsprechen und geeignet sind, Minderjährige in die Irre zu führen. Den Einfiltrierungen des grenzenlosen Satellitenfernsehens könnte mit einer Kontrolle durch den Empfangsstaat ähnlich der Hafenstaats- Kontrolle in der Seefahrt begegnet werden. Mittel und Wege gibt es. Die Verantwortlichen müssen handeln. Ein Staat, der alles zuläßt, gibt seine innere Ordnung preis.“
Ich bin nicht sicher, ob Herr Schulze, der in den letzten Jahren scheinbar nicht sehr oft ferngesehen hat, das „Sandmännchen“ durchgehen lassen kann. Er steht allerdings mit seinem „Schluß mit dem liberalen Blödsinn“-Ruf nicht allein da, denn bereits am 25. 2. hatte Christiane Graefe in der Wochenpost wegen ihres Mißfallens am Fernsehprogramm eine „Stiftung Medientest“ gefordert, dem Tagesthemen-Mann Ulrich Wickert im Interview in derselben Zeitung am 18.3. noch eins drauf setzte, indem er akklamierte: „Wir brauchen ein Greenpeace fürs Fernsehen.“
Ein bißchen Licht ins sorgenvolle Dunkel konnte am 19.März die Zeit bringen, die sich gleich ein ganzes Dossier gönnte, aber doch eher zu einem „Nein, lieber nicht“ in Sachen Fernsehkontrolle kam. Die publizistische Lichterkette in Sachen Fernsehkritik dürfte auch in den kommenden Wochen kaum erlöschen.
Ein paar Schritte weiter war da bereits Botho Strauß, der sich in seiner als rechtes Be- und Verschwörungspamphlet mißverstandenen Medienschelte (Spiegel 6/93) nicht bei der dualen Logik Verbieten/Erlauben aufhielt, sondern die Antwort orakelhaft schon mitteilte. „Doch sie werden nicht mehr empfangen. Das Weltschaugewerbe wirkt auf einmal wie ein verstaubter Zirkus, hat auf einen Schlag alle suggestive, realitätszersplitternde Macht verloren. Die in den Kästen werben und werben noch, geradezu mit todesängstlicher Anstrengung – doch das Publikum lächelt unerbittlich und milde zugleich: es glaubt einen andern Glauben. Die Intelligenz der Massen hat ihren Sättigungsgrad erreicht. Unwahrscheinlich, daß sie noch weiter fortschreitet, sich transzendiert und zehn Millionen RTL-Zuschauer zu Heideggerianern würden. Hellesein ist die Borniertheit unserer Tage. Die High-Touch-Intelligenz, alle immer miteinander in Tuchfühlung, unterscheidet nicht mehr zwischen Fußvolk und Anführern. Was einmal die dumpfe Masse war, ist heute die dumpfe aufgeklärte Masse.“... und die hat, so möchte man Botho Strauß und mehr noch den erregten Feuilletonisten zurufen, längst das Wort ergriffen und plaudert immer mehr auch im Fernsehen munter drauflos, wie es gerade gefällt und nicht, wie es die Theoretiker eines emanzipativen Mediengebrauchs in Nachfolge von Brecht, Benjamin, Enzensberger und Negt/Kluge gewünscht hatten.
Recht behalten hat eben doch Andy Warhol, der schon vor Jahren wußte, daß es nur um jene Viertelstunde geht, die ein jeder einmal berühmt sein darf. Herr Schulze und andere rufen nach der Feuerwehr und sehen deren rettenden Eingriff duch die gaffenden Massen gefährdet.
Ihre Notrufe scheinen aber auf merkwürdige Weise zu verhallen, weil ein populistisches Verständnis der Dialektik der Aufklärung längst zu den Überzeugungen der Fernsehzuschauer gehört, oder mit einem umgekehrten Hölderlin: wo keine Gefahr ist, besteht auch keine Aussicht auf Rettung. Es wäre ein anderesmal darüber zu reden, daß das Fernsehen bei weitem nicht so schlecht ist wie das Gewerbe, das sich wortreich mit ihm befaßt, aber den Namen Kritik kaum verdient. Herr Schulze und Co. machen sich ihr Geschäft nämlich sehr einfach, indem sie sich mahnend mit dem Medium befassen und kulturellen Verfall hinter jeder Einstellung wittern. Von einem Fernsehkritiker aber sollte man verlangen dürfen, daß er sich auch mit technischer Machart, den psychologischen Implikationen der Sender-/Empfänger-Struktur und den soziologischen Kontexten der einzelnen Sendung befaßt. Hilfreich wären Vermutungen über Rezeptionsweisen und damit verbunden eine Unterscheidung der Tatsache, daß Mediennutzungszeiten nicht mit völliger Hingabe an das Medium gleichzusetzen sind.
Die Mediennutzungsforschung hat hier bereits empirische Daten zutage gefördert, der sich die kulturkonservative Kritik, als Fernsehkritik getarnt, durchaus aussetzen könnte. Vom Fernsehkritiker möchte man zunächst eine Seherfahrung sowie eine kompetente Auseinandersetzung über das Einlösen oder Nichteinlösen ästhetischer Rahmenbedingungen mitgeteilt bekommen. (Gewiß tut's hier mitunter auch eine bissige Polemik.) Vom Literaturkritiker erwartet man ja auch ein konkretes Nacherzählen, hilfreich sind Anmerkungen über das jeweilige Autorprojekt, unabdingbar meistens ein begründetes Urteil über Gelingen oder Mißlingen vor der bahnbrechenden Erkenntnis, daß Bücher sowieso eine Verfallserscheinung der neuesten Zeit sind.
Genau in jenem Zustand aber scheint sich die Fernsehkritik zu befinden, die in 40 Jahren öffentlich-rechtlichen Rundfunks kaum zu eigenen Kriterien, geschweige denn zu einer eigenen Gattung gefunden hat und nun die Umtriebe des Privatfernsehens mit dessen bisweilen Peinlichkeitsgrenzen überschreitendem Dilettantismus als kulturellen Zerfall erleben und beschreiben muß.
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