Hilf, wenn Du es vermagst ...

■ Vor 200 Jahren starb in Bremen Adolph Freiherr Knigge. Jetzt wird die historische Persönlichkeit neu entdeckt – nicht als Autor von Benimmregeln, sondern als politisch wacher Kopf, Literat und Aufklärer von Susanne Raubold

Wie esse ich mit Messer und Gabel? Geht der Herr vor der Dame durch die Tür oder umgekehrt? Wer stellt wen in größerer Runde vor? Die Fragen nach den letzten Regeln des guten Benehmens kommen in allergrößter Bedrängnis. Und wer keine Antwort geben kann, verweist auf Knigge. Bei ihm erhofft man sich Rat. Ein ziemliches Mißverständnis: Nichts lag dem Freiherr Knigge ferner, als seine Zeitgenossen den unfallfreien Umgang mit dem Fischbesteck zu lehren.

Vor genau 200 Jahren starb Adolph Freiherr Knigge im Alter von 43 Jahren in Bremen. Im Dom wurde er beigesetzt. Pünktlich zum Todestag am 6. Mai erinnert sich Bremen seines Sohnes und feiert ihn mit einem Symposium, neuen Publikationen, Lesungen und Konzerten. Über allem steht die Frage: Wer war Knigge wirklich?

Unter dem Stichwort Knigge verzeichnet der Buchhandel Titel wie: Der Haushaltsknigge und Knigge für Beamte. Der Ratgeber für den Staatsdiener, dann Knigge 2000, und sogar einen Lesben-Knigge, Ratgeber für alle Liebeslagen – von dem üblichen Manager-Knigge, der „moderne Umgangsformen im kaufmännischen Alltag“ preist, ganz zu schweigen. Der Namensgeber selbst schrieb Romane, Tagebücher, Briefe, Reisebeschreibungen, Predigten und Texte zur französischen Revolution. Heute ist aber nur noch ein „Knigge“, der Knigge, lieferbar: „Über den Umgang mit Menschen“. Seit Jahrhunderten ein Bestseller, in jeder neuen Auflage bearbeitet, verhunzt und verstümmelt. Zwischen den Buchdeckeln der Originalausgabe steht nichts vom restriktiven Charakter der Benimm-Regeln. Im Gegenteil: „Über den Umgang mit Menschen“ steht in der Tradition der Aufklärung, versteht sich als angewandte Lebensphilosophie und setzt auf schichtenübergreifende Verständigung. Ein weitgehend unbekannter Knigge, den es wiederzuentdecken gilt. Kein leichtes Unterfangen: Der berühmte Name verstellt eine neue Sicht auf den vielseitigen Menschen.

Am 16. Oktober 1752 auf Schloß Bredenbeck bei Hannover zur Welt gekommmen, schien dem adeligen Knigge eine sorgenfreie Zukunft gewiß. Doch als der 14jährige zum Alleinerben eingesetzt wurde, zeigte sich, daß der leichtlebige Vater die Güter hochverschuldet hinterlassen hatte. An ein Leben als wohlsituierter Landedelmann war nicht zu denken. Nach dem Studium der Jurisprudenz in Göttingen versuchte er sein Glück am Hof des hessischen Landgrafen in Kassel. Hier wurde er Hofjunker und Assessor und schien sich bald als Mit-Direktor der hessischen Tabakfabrik einer standesgemäßen Karriere zu nähern. Doch die Illusion hielt nicht lange: Bei Hofe kam es auf Taktik und Intrige an, Kenntnisse, gar Leistung, waren gar nicht gefragt. Knigge hielt es in dieser Umgebung nicht lange aus.

Später schrieb er über seine bitteren Erfahrungen: „Weil ich aber fremd, ohne Schutz, ohne List und Erfahrung war, so sah ich mich auf einmal mit Feinden und Verleumdern umgeben. Ich verließ also endlich den Kampfplatz und sah mich nach einem anderen Wohnorte um.“ Die Erfahrungen bei Hof lieferten ihm später das Material zu seinem Standardwerk „Über den Umgang mit Menschen“. Hier analysiert er die heikelsten Situationen im Leben und auch die alltäglichsten.

Heikel: Was soll man tun, wenn einem der Freund seine Not klagt? „Halte Dich nicht mit moralischen Gemeinsprüchen auf. (...) Hilf, wenn Du es vermagst, aber verzärtele ihn nicht durch weibisches Klagen. (...) Schmeichle ihm nicht mit falschen Hoffnungen.“ Knigge definiert die Grenzen der Vertraulichkeit. Sehr schwierig: Wie verhält man sich gegenüber seinen untereinander zerstrittenen Freunden? Zum Beispiel einem Paar in Trennung.

„Das ist keinesfalls der Mief der 50er Jahre-Benimmbücher mit den Salzstangenhaltern, sondern eine emanzipatorische Geste,“ sagt Walter Weber, Spezialist für Literatur des 18. Jahrhunderts und Herausgeber eines gerade erschienenen Bandes über „Adolph Freiherr Knigge in Bremen“. Über „die Verhältnisse zwischen Herrn und Diener“ heißt es: „Es ist traurig genug, daß der größte Teil des Menschengeschlechts durch Schwäche, Armut, Gewalt und andre Umstände gezwungen ist, dem kleineren zu Gebote zu stehen. (...) Was ist daher billiger, als daß die, denen das Schicksal die Gewalt in die Hände gegeben hat, ihren Nebenmenschen das Leben süß und das Joch erträglicher zu machen, diese glückliche Lage nicht ungenützt lassen?“ Und wie verhält man sich gegenüber Künstlern? „Willst Du Dich bei diesem wilden Haufen beliebt machen, so mußt Du die Geduld haben, ihren Unsinn anzuhören, oder gar die Niederträchtigkeit begehen, ihn zu loben.“

„Ein politischer Autor“, sagt der Spezialist Weber, „das war damals jemand, der Gesellschaftkritik übte.“ Den Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen vollzog Adolph Freiherr von Knigge am eigenen Namen, indem er im Zuge seiner Begeisterung für die Ideen der Aufklärung das adelige „von“ tilgte und sich fortan nur noch „Freiherr Knigge“ nannte.

Nach seiner Kasseler Zeit zwang ihn die Geldnot, für den eigenen Lebenunterhalt zu sorgen, indem er sich als einer der ersten freier Schriftsteller auf dem gerade entstehenden Buchmarkt etablierte. Das tat er keineswegs freudigen Herzens: „Ich habe bis itzt für Geld Bücher geschrieben, um als ehrlicher Mann irgend standesgemäß mich und die Meinigen zu ernähren. Ich habe nicht aus elender Autor-Sucht, sondern mit Unlust, ums Brod, geschrieben.“

Knigge kam 1790, ein Jahr nach der Französischen Revolution, als „Oberhauptmann“ in Diensten des englischen Königs nach Bremen, um hier den englisch-hannoverschen Dombezirk zu verwalten. Die Hansestadt Bremen war dem Freiherrn nicht unsympathisch. Nach den intriganten Höfen muß sie ihm als ein Ort der Klarheit und Rechtschaffenheit erschienen sein, der aufs beste zu seinen Idealen der Aufklärung paßte. Hier herrschten weder Müßiggang noch übermäßiger Luxus. Knigge lobte in einem fiktiven Reisebericht die sozialen Einrichtungen der Stadt, zum Beispiel ihre Armenfürsorge, sowie den Patriotismus der Bremer: „Wer aber mehr wie dreytausend Thaler besitzt, taxiert sich selbst, nach Gewissen; und zum Ruhme der Hiesigen redlichen Bürger sey es gesagt, aus Patriotismus bezahlt Jeder einen größere Summe, wie ihm auferlegt werden könnte, wenn sein Vermögens-Zustand strenge untersucht würde.“

Ein wenig überfordert allerdings zeigten sich die guten Bremer, als Knigge ihnen seine Begeisterung für die Französische Revolution zumutete. 1791 veröffentlichte er dem umstrittenen satirischen Roman „Benjamin Noldmann's Geschichte der Aufklärung in Abyssinien“, in dem er zur Revolution Stellung nimmt. Auch der nachfolgende Text: „Joseph's von Wurmbrand politisches Glaubensbekenntnis, mit Hinsicht auf die französische Revolution und ihre Folgen“, provozierte die Konservativen. Knigge, der schon aufgrund einer früheren Mitgliedschaft in Freimaurerlogen als verdächtig galt, geriet in den Mittelpunkt einer polemischen Kampagne. Er wurde als Volksaufwiegler und Jakobiner denunziert.

200 Jahre lang ist Knigge schon tot: höchste Zeit, den wahren Knigge auszugraben. Die aktuellen Diskussionen um den Freiherrn zeigen den Freimaurer, den Reiseschriftsteller, einen frühen Vorkämpfer des Parlamentarismus, einen Pädagogen, sogar den Komponisten und Gründer eines Bremer Liebhabertheaters. Doch auch diese Bremer Aufklärung wird scheitern. Zu erwarten ist, daß der Freiherr weiterhin bis in alle Ewigkeit nicht als früher Linker, sondern als Lehrer für unfallfreies Essen gelten wird.