Hildesheim will Kulturhauptstadt werden: Stadthistorische Sorgfalt
Hildesheim bewirbt sich als Europäische Kulturhauptstadt 2025. Überzeugen soll die Jury auch die stadtgeschichtliche Ausstellung „Kunstvoll! Hildesheim in Malerei und Grafik“.
![Eine Lithografie, die Hildesheim vom Galgenberg aus zeigt. Eine Lithografie, die Hildesheim vom Galgenberg aus zeigt.](https://taz.de/picture/3048406/14/ir_enginepl.jpeg)
Dieses Jahr sind das friesische Leeuwarden und das maltesische Valetta an der Reihe, 2019 dann Matera und Plowdiw. Hier muss man schon nachschauen, in welchen Ländern die beiden Städte überhaupt liegen, so unbekannt sind sie.
Wenig verwunderlich ist es entsprechend, dass sich nur die zweite Garde hiesiger Städte um den Titel bewirbt, wenn Deutschland 2025, nach 2010, wieder die Ehre hat. Damals konnte sich Essen mit der Region Rhein-Ruhr gegen Bewerbungen aus Görlitz, Bremen oder Braunschweig durchsetzen, die Kreativität postindustriellen Strukturwandels punktete vor geschichtsträchtiger Hochkultur.
Mit sechs Jahren Vorlaufzeit muss der ausrichtende EU-Staat ein nationales Auswahlverfahren durchführen. Das Ergebnis wird in mehreren Runden juriert, vier Jahre vor Beginn soll der Europäische Rat seine Nominierung treffen.
Nur die zweite Garde niedersächsischer Städte
Hannover und Hildesheim steigen nun für den Norden ins Bewerbungsboot 2025, man ist geneigt, auch Magdeburg geografisch noch dazuzurechnen. Chemnitz, derzeit nicht mit weltoffenem Spirit beseelt, Halle an der Saale, Zittau und Dresden vertreten den Osten, Nürnberg den Süden. Koblenz hätte doch lieber die Bundesgartenschau 2031, und Kassel hat nach der Documenta-14-Pleite eine Bewerbung aus Kostengründen verworfen. Insgesamt scheint ein aktuelles Interesse eher verhalten bis zaudernd, denn euphorisch rüberzukommen.
Unter dem Kurt-Schwitters-Kalauer „vorwärts nach weit“ tritt Hannover an. Bürgerschreck Schwitters las den Namen seiner Heimatstadt ja gerne von hinten nach vorn, aus „revonnaH“ leitete er dann die Handlungsaufforderung ab: „Hannover strebt vorwärts und zwar ins Unermessliche“
Das trifft für die Intensität der Hannoverschen Bewerbung noch nicht recht zu. Man denkt in verwaltungskonformen Schritten, hat pragmatisch, vielleicht auch kalkulierend, den niederländischen Kulturmanager Oeds Westerhof als Berater verpflichtet. Der ist noch Chefmanager der Kulturhauptstadt Leeuwarden. Bei ersten Abstechern nach Hannover sprang ihm eine bemerkenswerte Kioskkultur ins Auge. „Aber wir brauchen mehr“, ließ er die Hannoversche Allgemeine wissen.
Hildesheim gibt sich jugendlich
Hildesheim gibt sich jugendlich, studentisch. Die bunte Website „Hi2025“ ging im Februar online, im Mai wurde das Projektbüro „Mittendrin“ eröffnet. Dies organisiert im Herbst eine Jugendkonferenz sowie die „Tour de Landkreis“, einen symbolischen Staffellauf über 20 Stunden und 25 Minuten, in dem Stadt und beteiligte Kommunen „Gemeinsam zum Titel“ eilen wollen.
Man darf also gespannt sein auf die „Bid-Books“, die im Herbst 2019 von jedem Bewerber vorgelegt werden müssen. Sie sollen eine erkennbare Programmlinie skizzieren und eine Kulturstrategie europäischer Dimension, so die Ausschreibungskriterien.
Eine Institution internationaler, besonders: wissenschaftlicher Reputation war das Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Es konnte dank der naturkundlichen und vor allem, laut Eigenangaben, einer der weltweit wichtigsten Altägypten-Sammlungen in den 1970er- und 1980er-Jahren immer wieder renommierte Häuser zu großen gemeinsamen Ausstellungen bewegen. „Echnaton, Nofretete, Tutanchamun“, aber auch archäologische Projekte zu den alten Kulturen Perus, Mexikos oder Chinas wurden Meilensteine internationaler Ausstellungskultur.
Zeitreise durch 500 Jahre Stadtgeschichte
Mit solch einem Haus welterklärerischen Verständnisses ließe sich in einer Bewerbung wuchern. Seit 2000 muss sich das Roemer- und Pelizaeus-Museum aber auch um die Stadtgeschichte kümmern, zusätzlich das rekonstruierte Knochenhauer-Amtshaus bespielen. Das den beiden namensgebenden Sammlern geschuldete spezifische Profil scheint zugunsten eines eher populärkulturellen Ausstellungsbetriebes ins Hintertreffen zu geraten.
Eine aktuelle Sonderausstellung, „Kunstvoll! Hildesheim in Malerei und Grafik“ heißt sie, versteht sich nun als institutioneller Diskussionsbeitrag zur Bewerbung als Kulturhauptstadt und versammelt insgesamt etwa 140 Artefakte. Dafür sind auch unbekanntere Ressourcen des Hauses aktiviert worden, die Museumssammlung verfügt auch über 19.000 Gemälde und Grafiken aus diversen Schenkungen, von denen jetzt einige zum allerersten Mal das öffentliche Tageslicht erblicken.
Zu sehen sind historische Stadtansichten, eine Zeitreise durch fünf Jahrhunderte, so das Museum. Das schmucke Fachwerkstädtchen, 815 gegründet als römisch-katholische Diözese, war oft Ziel von Künstlern. Die Schweizerin Gertrud Escher etwa unternahm 1905 auf ihrer Deutschlandreise einen Abstecher, fertigte sechs Radierungen. Die örtliche „Meisterschule des deutschen Handwerks“ und die Baugewerkeschule ließen Aufmaße und Architekturzeichnungen „nach der Natur“ anfertigen, und bereits um 1580 hat der „Helmstedter Meister des Dreiecks“ für eine „Chronica“ zum Holzschnitt gegriffen.
„Kunstvoll! Hildesheim in Malerei und Grafik“: bis 3. Februar 2019, Hildesheim, Roemer- und Pelizaeus-Museum
Hinzu kommen Objekte: zwei vermutlich gotische Straßenlaternen in Metallblech, verzierte „Füllbretter“, Schmuckelemente aus Fachwerkhäusern, die Kriegskasse, aber auch ein zweischneidiges Richtschwert „mit doppelseitig schwach angedeuteten Blutrinnen“.
Natürlich fehlt das Trauma des Zweiten Weltkriegs nicht. Hildesheim wurde ab 1944 Ziel alliierter Bombenangriffe, wie eine Sprengbombe „mit Zünder“ dokumentiert. Auch eine Stabbrandbombe aus dem letzten, verheerenden Angriff vom 22. März 1945 liegt im Schaukasten. In nur 15 Minuten warfen englische und kanadische Bomber insgesamt 438,8 Tonnen Spreng- und 624 Tonnen Brandbomben ab. Mehr als 1.600 Menschen starben, 75 Prozent aller Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, darunter fast die gesamte Altstadt, so die Statistik. Aquarelle zeigen die verwüstete Stadtlandschaft.
Aber es gab auch „Endphaseverbrechen“: Im März 1945 wurden Zwangsarbeiter aus Italien und Osteuropa wegen angeblicher Plünderungen auf dem Hildesheimer Marktplatz erhängt, Leichen zur Schau gestellt, im April 1945 alle Gefangenen des Polizei-Ersatzgefängnisses von der Gestapo hingerichtet.
Hildesheim: Das ist nicht nur aufwendig inszeniertes Unesco-Welterbe mit Dom, Schatz und St. Michaelis – ein Rundgang nach der Ausstellung sei empfohlen –, sondern angesichts erlittener Katastrophen die Aufforderung zu stadthistorischer Sorgfalt und Sensibilität.
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