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Hier kann man zum Terroristen werden

200 Palästinenser sitzen zwischen Libyen und Ägypten fest. Gaddafi hat sie vor neun Monaten rausgeschmissen. Nach Palästina können sie nicht, weil ihnen Israel den Weg verwehrt  ■ Aus Salloum Karim El-Gawhary

Monoton trommelt der Wüstenwind gegen die Zeltwand, die sich langsam in der Vormittagssonne aufwärmt. Gedämpft dringt das Geschrei spielender Kinder durch den dicken braungrauen Stoff. Drinnen hat sich eine Handvoll Männer in verschlissenen Trainingsanzügen und Dreitagebärten niedergelassen. „Morgens warten wir auf die Nacht und nachts harren wir dem Morgen entgegen“, sagt Muhammad Ahmad Mahmud Asch-Schurafa, wischt den Staub von der Matte am Boden seines Zeltes und lädt ein, Platz zu nehmen. Die anderen nicken zustimmend. Es werde nicht mehr lange dauern „und wir werden nicht nur die Zeit, sondern auch unsere Namen vergessen“, fügt einer noch hinzu.

Fünf Jahre lang schuftete der Palästinenser Asch-Schurafa in Libyen als Bauarbeiter. Nun vegetiert er bereits seit neun Monaten mit 200 Landesgenossen in diesem Wüstenlager an der libysch-ägyptischen Grenze dahin – in der Mitte von Nirgendwo. Auf einem Areal, etwas größer als ein Fußballplatz, stehen ihre vierzig Zelte, umgeben von Stacheldraht und Müllhalden. In der Mitte durchschneidet die einzige Verbindungsstraße zwischen Ägypten und Libyen den Zeltplatz. Östlich des Lagers langweilt sich der letzte ägyptische Kontrollposten in der Sonne. Westlich checken libysche Grenzer Lkws – auf diesem Weg versorgt sich der libyschen Staat, über den die UNO vor vier Jahren wegen der Lockerbie-Affäre ein Luftembargo verhängt hat.

Für die palästinensischen Staatenlosen im Niemandsland fühlt sich niemand verantwortlich. Sie sind vielleicht die traurigsten Verlierer des Nahost-Friedensprozesses. In die der palästinensischen Selbstverwaltung unterstellten Gebiete im Gaza-Streifen und im Westjordanland können sie nicht aufbrechen – die israelischen Behörden verweigern ihnen die Einreise. Aber weil der Ort des Geschehens gut tausend Kilometer westlich der israelisch-ägyptischen Grenze liegt, kann die israelische Seite das Ganze als ein rein arabisches Problem darstellen.

Für die ägyptischen Behörden würde sich mit einer Aufnahme der Flüchtlinge das Problem nur von der ägyptisch-libyschen zur ägyptisch-israelischen Grenze verlagern. Auch die Rückkehr nach Libyen scheint ausgeschlossen. Vielleicht hofft Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi, die Palästinenser gegen das UN-Embargo ausspielen zu können.

Für viele im Lager scheint eine Rückkehr in die „Republik der libyschen Volksmassen“ ohnehin nicht mehr erstrebenswert. Ihre Arbeit in Libyen haben sie verloren, ihrer Wohnungen und einen Teil ihres Hab und Guts haben sie verkauft. „Am Ende ist es doch besser, hier mit meinen Kindern in einem Zelt zu leben, als in Libyen auf der Straße“, meint Muhammad Raschid al-Rifa'i, der in Libyen als Zimmermann gearbeitet hat.

Musa Muhammad Ibrahim ist Zahnarzt; zehn Jahre lang hat er in Libyen praktiziert. „Mir ist inzwischen alles egal“, sagt er nun. Früher habe er sich nicht vorstellen können, irgendwo außerhalb der arabischen Welt zu leben. Heute, sagt er bitter, würde er sogar nach Ruanda auswandern.

Vor sechs Monaten war Ibrahim in einem Kleinbus mit seinem Hab und Gut hier angekommen. Am nächsten Tag stand sein Zelt in Flammen: Aus Ärger über ihre Situation hatten die Lagerbewohner die Grenzstraße blockiert, die ägyptische Polizei hatte daraufhin mit Tränengasgranaten einige der Zelte in Brand gesteckt. Mit den Füßen gräbt Ibrahim in der hinteren Ecke des Lagers heute einige seiner zusammengeschmolzenen zahnmedizinischen Instrumente aus. Eigentlich wollte er im Gaza- Streifen, wo der Rest seiner Familie lebt, eine Zahnarztpraxis aufmachen. Das ist nun vorbei. „Es ist schwer, nicht die Hoffnung zu verlieren“, sagt er dazu nur kurz.

Ibrahim ist nicht der einzige im Lager, den das letzte halbe Jahr regelrecht gebrochen hat. Es sind nicht die Hautkrankheiten, wie die weitverbreitete Krätze, die den Palästinensern hier am meisten zu schaffen machen. Von den Skorpionen, Schlangen und Ratten, die sich ab und zu ins Lager verirren, sprechen sie zwar angewidert, aber auch die sind inzwischen zu einem Teil des täglichen Lebens geworden. Ihr größtes Problem ist die Hoffnungslosigkeit. Sie jagen jedem Gerücht hinterher, das eine Rückkehr ins gelobte Land verheißt, und wenn einmal keines mehr kursiert, gehen sie inzwischen auch gern aufeinander los. Fast jeden Tag tönt im Lager lautes Geschrei: Streitigkeiten, die nicht selten handgreiflich enden. So keilt man sich zwischen den Familien und innerhalb der Familie. „Oft verprügele ich meine Tochter und weiß hinterher nicht mehr, warum“, erzählt eine Frau.

Mancher nähert sich langsam dem Wahnsinn. So träumte ein Mann vor kurzem, er werde nach Palästina gelangen, wenn er einen Hund schlachte. Am nächsten Tag fing er vier wilde Hunde rund um das Lager und schnitt ihnen die Kehle durch. Es nützte nichts. Inzwischen soll er eine andere Traumeingebung gehabt haben, erzählen die Lagerbewohner hinter vorgehaltener Hand: Wenn er einen Menschen schlachte, würde es wirklich klappen. Solche Geschichten schaffen Angst und Mißtrauen. Daß der ägyptische und vor allem der libysche Geheimdienst zahllose Schnüffler im Lager plaziert hat, die meist an ihrer frischgewaschenen Kleidung und glatten Rasur zu erkennen sind, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei.

In all dem versuchen die Menschen im Lager trotzdem, ein halbwegs normales Leben zu führen. Die libyschen Grenzer haben ihnen erlaubt, in der wenige Kilometer entfernten libyschen Grenzstadt Musa'id mit ihren Ersparnissen einkaufen zu gehen. Manch einer versucht sich inzwischen auch im Kleinhandel. Gelegentlich konfisziert der libysche Zoll von reisenden ägyptischen Kleinhändlern einige Ladungen Tomatenmark, die sie in Libyen zum Weiterverkauf in Ägypten erstanden haben, und verkauft sie dann weiter an die Palästinenser; am ägyptischen Schlagbaum am anderen Ende des Lagers holen Händler des örtlichen Beduinenstamms die Paste dann gegen einen Aufpreis von 50 Pfennig pro Palette ab. Ein Geschäft zur Zufriedenheit aller Anwesenden, mit Ausnahme der reisenden Händler.

Einige Palästinenser haben sich inzwischen auf Dauer eingerichtet. Eine siebenköpfige Familie hat den Boden ihres Zeltes zementiert und in eine Ecke ein Badezimmer gemauert. Die Küche ist durch einen Vorhang vom Rest des Zeltes abgetrennt. In der Mitte läuft ein billiger Schwarzweiß-Fernseher mit illegal abgezwacktem Strom der libyschen Grenzstation. Wenn die über fünfzig Kinder im Lager nicht gerade vor der Glotze sitzen, spielen sie mit aus Müll zusammengezimmertem Spielzeug. Stolz zeigt eines von ihnen seine neueste Erfindung: Ein in der Mitte durchgeschnittener Plastikkanister, der mit einer Schnur versehen als eine Art Sandschlitten dient.

Den meisten Bewohnern des Lagers ist die Erfahrung der Flucht durchaus nichts Neues, obwohl es viele von ihnen in den Jahren in Libyen zu ein wenig Wohlstand und einer Eigentumswohnung gebracht hatten. Ismail Essa war mit seinem Vater 1948 von Israel in den Gaza-Streifen geflüchtet. Als israelische Truppen 1967 den Gaza besetzten, machte sich sein Vater auf dem Weg ins ägyptische al- Arisch. Ismail studierte schließlich in Kairo und arbeitete als medizinisch-technischer Assistent in diversen Krankenhäusern Kairos. Dort heiratete er dann eine Ägypterin und zog Mitte der 70er Jahre auf der Suche nach Wohlstand für seine inzwischen siebenköpfige Familie nach Libyen. Nun sitzt auch er in der Öde zwischen den zwei Grenzstationen.

„Wir stehen in Verhandlungen mit allen möglichen Staaten, um wenigstens einzelne Gruppen, etwa diejenigen, die mit einer Ägypterin verheiratet sind, aus dem Lager herauszubringen“, erklärt Panos Moumtzis vom UN- Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Kairo. Bisher hat er für die letzten Zweihundert allerdings keinen Erfolg zu vermelden. Die Schwierigkeit liege nicht darin, sie unterzubringen: Die Länder haben Angst vor einem Präzedenzfall.

Denn bereits im März kündigte Oberst Gaddafi an, daß die Insassen der 40 Zelte nicht die letzten sein werden. Weitere 35.000 Palästinenser würden Libyen bis zum Sommer verlassen haben. Es sei keine Deportation, sondern eine Rückkehr in die Heimat. Bis dahin werden die 200 zwischen den Grenzzäunen wahrscheinlich keine Schlagzeilen mehr machen. „Sie halten ihre großen Konferenzen zur Erhaltung des Nahost- Friedensprozesses ab und vergessen uns hier völlig“, erklärt eine Frau frustriert. „Hier kann man zum Terroristen werden“, meint ein Mann. „Wenn wir der Welt nichts wert sind, was soll uns dann noch die Welt wert sein?“ Und er macht sich, vorbei an den spielenden Kindern, auf ins Zelt, um dort abwechselnd auf den Tag und die Nacht zu warten.

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