: Hier dirigiert der Karatekämpfer
■ Trendy trendfern auch ohne Voodooclub und Pia Lunda: Phillip Boa sang, fuchtelte und pöbelte gutgelaunt im Modernes
„Wenn die Stimmung hier nicht ein wenig positiver wird, müssen wir unsere Geheimkiste öffnen! Dann kommen GOGO DANCERS! LEUTE, DIE IN VIDEOS AUFTRETEN! FEUERSCHLUKKER! MÄUSESCHLUCKER! KOMIKER! MENSCHEN, DIE SICH VERBRENNEN KÖNNEN!“Am Freitag hatte Phillip Boas Gemeinde ihrem Meister einen herzlichen Empfang im Modernes bereitet, und er hatte eigentlich keinen Grund zur Beschwerde. Ab und an maulte er trotzdem, wohl um der alten Zeiten willen. Früher lieferte sich der ehemalige Vereinsvorsitzende des Voodooclubs mit seinen Fans wüste, lustvolle Beschimpfungsorgien. Vereinzelte „Arsch-loch! Arsch-loch!“-Chöre ertönten auch 1998 noch, aber Boa kanzelte sie gelangweilt ab: „Ruft mal was Interessantes!“Prompt erkundigte sich ein Rufer, ob Boa denn nach der beruflichen und privaten Trennung von Pia Lunda schon eine neue kleine Freundin hätte. „Also, ziemlich viele von euch sind sehr, sehr merkwürdig“, fand der Gefragte. „Aber das ist besser als gar nichts. Gar nichts zu sein ist ja auch nicht schön.“Nein, dieser Phillip Boa war kein Arschloch, höchstens ein Lästermaul. Ein sympathisches, gutgelauntes und kommunikatives Lästermaul. Gerne machte er seinen Ansichten über die Love-Parade („Sekretärinnentreff!“) oder Aaron Carter („Die Popstars von heute! Da fühl ich mich wohl!“) Luft.
Musikalisch war der Weggang seiner Band Voodooclub kaum zu hören. Auch seine neue, namenlose Begleitband setzte auf vertrackte Rhythmen – durch doppelten Schlagzeugeinsatz zwischen Mosh- und Marschmusik. Boas Flirt mit Techno-Beats schien überwunden. Einige Stücke wurden mit Loops und Einzelgeräuschen aus der Maschine verfeinert, im Vordergrund stand aber die altbewährte Mischung aus Gitarren-Krach und Keyboard-Kunst. Jener verschrobene Sound war in den 80ern genauso trendfern, wie er es heute ist, und er wirkt kein bißchen antiquiert. Diese Zeitlosigkeit macht Boa moderner als andere Musiker fortgeschrittenen Alters, die sich verzweifelt Drum'n'Bass-Produzenten an den Hals werfen, um sich bei Trends einzuschleimen, die sie nicht selbst gesetzt haben.
Eigensinnig wie der Sound war auch seine Gestik. Mal wie ein verrückter Dirigent, mal wie ein betrunkener Karatekämpfer traktierte er die Luft. Brauchte er eine Hand, um sich versonnen durchs Haar zu streichen, blieb die andere weiterhin mit den ziellosen Handkantenschlägen beschäftigt.
Aber was macht man ohne Pia Lundas görenhaften Gesang, ohne den viele der älteren Stücke nicht funktionieren? Man spielt sie einfach nicht. Das Volk bekommt „Kill your Ideals“, weil Boa das notwendige Gebrüll alleine erledigen kann, „Container Love“bekommt es nicht. „Annie Flies the Love Bomber“wurde so rabiat runtergeholzt, daß Feinheiten eh nicht rauszuhören waren. Die meisten Songs kamen live härter daher als zu Hause, aber in den seltensten Fällen schadete ihnen das. Im Gegenzug klang Boas Gesang nicht gar so schräg wie auf Platte.
Angenehm auch die Vorgruppe „anger77“. Ihr Sänger hatte profunde Erkenntnisse wie „Ich war zwölf Jahre Teil einer Jugendbewegung, das war scheiße“, und die Musiker spielten dazu Rock, der kräftig hinlangte. Andreas Neuenkirchen
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