Heute ist Record Store Day: Die Welt ist eine Scheibe
Ihr Tod galt als sicher. Doch die Schallplatte feiert Renaissance. Darum gibt es weltweit den Record Store Day. Auch in Berlin beteiligen sich viele Läden.
Es muss knistern. Wenn der sanfte Gesang Paul McCartneys, das vorsichtige Zupfen der Gitarre und die Streicher einsetzen, dann muss sich die Nadel langsam durch den zarten Staub hindurcharbeiten und dieses unnachahmliche Geräusch erzeugen. Höre ich den Song „Yesterday“ oder irgendein anderes Stück der Beatles oder Stones, gehört dieses Knistern zum Sound einfach dazu. Die Lieder hören sich falsch an – und es ist geschichtsvergessen –, wenn man sie nicht auf Vinyl hört.
Die historische Bedeutung des Mediums Schallplatte als wichtigstes Medium der frühen Rock- und Pop-Ära ist einigermaßen klar. Hört man jedoch aktuelle Hit-Alben, etwa von Kendrick Lamar oder dem Berliner Rapper Marteria, so geht es auch dort los mit typischem Schallplattenknistern und Musikzitaten aus Vinylepochen – auf Alben, die überwiegend digital konsumiert werden. Das Sampeln der altmodischen Plattengeräusche gehört hier dazu.
Und nun feiert das Vinyl als aktuelles Medium seit geraumer Zeit ein Comeback. Jahr für Jahr steigen in diesem Segment die Umsätze und Auflagen, wenn auch die Schallplatte immer noch weniger als drei Prozent des Tonträgermarkts ausmacht und zweifelsohne ein Nischendasein führt. Ja, selbst die Musikkassette wird wiederentdeckt.
Was finden wir nur an den vergleichsweise umständlichen, sperrigen Formaten? Ist es bloß Nostalgie?
Heute ist der dritte Sonnabend im April, und damit wieder mal der Record Store Day (RSD). Seit 2007 gibt es diesen Feiertag der unabhängigen Plattenläden. Begründet wurde er in den USA, mittlerweile gilt er als weltweit größtes Musikevent.
Um die Menschen auch vom Computer weg in die Schallplattenläden zu locken, gibt es exklusive Veröffentlichungen, die - meist streng limitiert - nur an diesem Tag in den am RSD teilnehmenden Geschäften zu haben sind. Auch in Berlin: Eine Liste der Plattenläden und weitere Informationen finden sich im Netz unter www.recordstoredaygermany.de.
Die hat sicher ihren Anteil. Begreift man die Digitalisierung als ähnlich große Zäsur wie den Buchdruck oder die Industrialisierung, könnte man sagen: Wir leben in einem Zeitalter so drastischer Umbrüche, dass das Vergangene in besonderem Maße anziehend auf uns wirkt. Vielleicht so wie vor mehr als 500 Jahren nach der Gutenbergschen Erfindung des Buchdrucks: Beschriebenes Papier oder Papyrusrollen mögen auf damalige Zeitgenossen „echter“ gewirkt haben als diese modernen Bücher.
Haptischer Vorteil
„Die Schallplatte ist ein sinnliches Objekt“, sagt Labelbetreiber Maurice Summen im Interview (siehe Interview mit dem Staatsakt-Gründer auf Seite 44, 45). Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen: Wir empfinden Vinylveröffentlichungen – wie Bücher – als schützenswertes Kulturgut, weil man sie anfassen kann und weil sie mit Cover und Booklet eine kohärente Geschichte erzählen. Weil sie überhaupt greifbar sind.
„MP3 hat keine Seele“, ist ein anderer Satz, den man häufig hört. Gemeint ist damit nur: Da ist kein abgewetztes Cover, das man betatschen kann, kein leicht modriger Geruch des Covers, man hört nicht das Aufsetzen der Nadel auf die Platte – es gibt nichts, was man anfassen kann.
Anlässlich des Record Store Day, bei dem am heutigen Sonnabend kleine Schallplattenläden in den Mittelpunkt gerückt werden und es Extraprogramm und -releases gibt, widmen wir uns dem Thema Vinyl in der Berliner Musikszene. Wir haben jüngst eröffnete Secondhandplattenläden genauso aufgesucht wie Shops, die frisch gepresstes Vinyl unter die Leute bringen. Wir haben mit den Machern – in diesem Fall kaum Macherinnen (siehe Seite 13) – gesprochen. Denn auch die Vinylkultur lebt nicht nur von Aktionstagen wie dem heutigen – inzwischen gibt es gar noch eine Plattenladenwoche im November –, sondern von all denen, die Schallplatten lieben. Weil die Welt ohne Knistern ein Stück trister ist.
Dies ist ein Teil des aktuellen Wochenendschwerpunkts in der taz.berlin. Darin außerdem: Ein Rundgang durch die besten Plattenläden Berlins und ein Interview mit dem Chef des Labels Staatsakt. In Ihrem Briefkasten und am Kiosk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins