Herta Müller lesen: Wie China den Ostblock missversteht
Die Bücher Herta Müllers provozieren die Chinesen zum Nachdenken: Etwa darüber, ob ihre Führung aus dem osteuropäischen Übergang die richtigen Konsequenzen zieht.
Herta Müller sitzt auf dem Blauen Sofa des ZDF. Ihr Blick birgt eine gewisse Unruhe, ihr Lachen wirkt ein wenig gezwungen. Zunächst dachte ich, sie sei schüchtern. Doch als sie über ihr neues Buch "Atemschaukel" berichtet und auf sowjetische Straflager und andere mir vertraute Geschichten zu sprechen kommt, begreife ich, dass es sich um eine Art der Wachsamkeit und Betroffenheit gegenüber der Welt handelt.
Herta Müller gehörte der im kommunistischen Rumänien lebenden deutschen Minderheit an. Ihre Mutter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiterin in ein sowjetisches Lager verschleppt. Sie selbst durchlebte viele Arten von Schikanen wie Überwachung, Verfolgung und Bedrohung, weil sie es ablehnte, mit dem rumänischen Geheimdienst zu kooperieren. In einem Interview hat sie gesagt: "Ich habe früher ernsthaft über Selbstmord nachgedacht, doch am Ende entschied ich mich, mir meine Freiheit zu erhalten. Denn in einer Situation der Bedrohung Selbstmord zu begehen, ist auch unfrei."
Wenn die Autorin über das Leben spricht, ist sie voll von Poesie, obwohl diese Poesie bei ihr als Dissidentin auch etwas Schauriges und Zaghaftes enthält und voll von einer bitteren Leichtigkeit ist. Der dicht gedrängten Zuschauermenge sagt sie: "In diesem weltlichen Gefängnis, meine ich, ist ein Tropfen zu viel des Glücks der Tod."
Grautöne
Der Buchdeckel der Deutschen Ausgabe von Herta Müllers neuem Buch ist grau, ein Farbton, der mir sehr vertraut ist. Vor zwei Jahren hatte die Stasispitzelgeschichte "Das Leben der Anderen" in Kreisen der chinesischen Intellektuellen ziemlich heftige Reaktionen hervorgerufen. Die ganze DVD war in dem gleichen Grauton gefasst. Die Situationen des Films sind für 40 Jahre Ostblockgeschichte nicht untypisch. Ein Freund von mir fragte mich, nachdem er den Film zu Ende gesehen hatte: "Sind wir auch so ein Land?" Ich sagte, ich kenne die konkreten Umstände dazu nicht im Detail, aber zumindest sind solche Geschichten nicht völlig auszuschließen.
Wenn ein chinesischer Leser Herta Müllers Buch liest, wird er sicher die gleiche Frage stellen: "Sind wir auch so?" Im Interview sagte Herta Müller: "Als ich 'Atemschaukel' schrieb, stand ich ständig unter dem Druck, dass die rumänischen Rückkehrer aus den sowjetischen Lagern nach und nach wegsterben und immer weniger Menschen diese Geschichten schildern können."
Es klingt großartig, dass die schrecklichen dunklen Wolken, die mehr als vierzig Jahre den Himmel über dem Ostblock bedeckten, sich langsam lichten. Und auch in China durften wir ein Zeitalter begrüßen, das besser ist als das vor 1978. Der Schrecken liegt für die Menschen dieser neuen Ära weit zurück. Deswegen fragen viele Jugendliche: Sind wir auch so? Oder: Waren wir auch einmal so?
Doch für die Menschen des vergangenen Zeitalters ist Redefreiheit immer noch befremdlich. Als ich 2003 Journalist wurde, lasen meine Familienmitglieder häufig, was ich schrieb. Manchmal riefen sie mich an und ermahnten mich zu politischer Korrektheit. Ich sollte die Regierung nicht kritisieren, weil mich das großen Gefahren aussetzen würde. Die Kulturrevolution und all die Massenbewegungen haben bei ihnen tiefe Spuren hinterlassen.
Chinesisches Selbstvertrauen
Die letzten 30 Jahre der Wirtschaftsentwicklung in China haben das Selbstvertrauen der Chinesen gestärkt. 1989 trat Osteuropa auf die Bühne. 1991 ging die Sowjetunion unter. Danach verfehlte die Wirtschaftsreform des früheren russischen Ministerpräsidenten die Vorgabe einer gerechten Verteilung und führte dazu, dass frühere Kader der KPdSU den Großteil der Schlüsselindustrien Russlands kontrollierten. Die Wirtschaft stagnierte, das Lebensniveau vieler Menschen sackte verheerend ab.
Die Chinesen haben dies aufmerksam beobachtet. Die Zeitungen schrieben, Osteuropa habe sich friedlich entwickelt. Schaut nur, ihr Leben ist ein Scherbenhaufen, der Kapitalismus kein bisschen besser als der Sozialismus. Viele Chinesen stimmen dem zu.
Doch sowohl die Zeitungen als auch die Bevölkerung vernachlässigen einen wichtigen Punkt. Echte Planwirtschaft gab es in der Sowjetunion und in Osteuropa nur in den frühen Jahren. Obwohl die Bevölkerung vom System drangsaliert wurde, gewährleistete das System ein hohes Niveau an Sicherheit. In Polen wurde beispielsweise 1972 ein öffentliches Gesundheitssystem für Bauern eingerichtet, 1978 folgten das Rentensystem, das Urlaubssystem und so fort. Das plötzliche Aufweichen dieser Systeme führte zu allgemeiner Verunsicherung in der Bevölkerung und förderte die Nostalgiegefühle der Menschen in Bezug auf die kommunistische Herrschaft.
Privatisierung hier und dort
China ist damit nicht zu vergleichen: Den chinesischen Bauern ging es nie gut. Ein Land, dem es an geschichtlicher Transparenz und echter Redefreiheit fehlt, wird bei der Diskussion solcher Fragen immer tendenziell fehlgeleitet. Als China beispielsweise vor einigen Jahren den Verkauf staatseigener Betriebe an die Privatwirtschaft diskutierte, waren viele amtliche Wirtschaftsexperten der Meinung, dies sei die gleiche Entwicklung wie in Osteuropa und die staatseigenen Betriebe würden an ausländische Investoren verkauft.
Aber offensichtlich wurde die Realität ein weiteres Mal missverstanden. Die Privatisierung in den osteuropäischen Ländern fand im Rahmen eines umfassenden Interessensdiskurses statt. Die Gewerkschaften hatten als Vertreter der Arbeiter in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die Verhandlungen über die Privatisierung der Schiffsfabrik in Gdansk dauerten fünf Jahre. In Rumänien wurde 12 Jahre über die Privatisierung des Kohlebergwerkes im Jiu-Tal verhandelt. In der gesamten Umstrukturierung Osteuropas finden sich zahlreiche solcher Beispiele.
Das ist ein großer Unterschied zu dem Ausverkauf der staatlichen Firmen in China. Obwohl China offiziell keine Privatisierung betreibt, wickelt sie den Verkauf des öffentlichen Eigentums im Alleingang und ohne Bereitschaft zu Verhandlungen ab. Die Bevölkerung kann diesen Prozess nicht nur nicht mitgestalten, sondern darf davon auch nichts wissen. Die Missverständnisse in Bezug auf die Umstrukturierungen in Osteuropa und der Sowjetunion haben unter Chinesen zu folgender Betrachtung geführt: Der Westen hat die Reformen in Osteuropa dirigiert und der Westen hat dadurch großen Profit gemacht.
Die Fehlinterpretation der gesamten Transition in Osteuropa und der Sowjetunion brachte die Chinesen dazu zu meinen, die osteuropäische Revolution sei vom Westen geleitet worden, der daraus enorme Gewinne schlagen konnte. Herta Müllers Ziel ist es, gerade solche Missverständnisse zu überwinden. Mit ihren einfühlsamen Beschreibungen persönlicher Erfahrung lässt sie die Chinesen mit ähnlichen Erlebnissen an der Wahrheit über die Ereignisse in Osteuropa teilhaben und dann ihre eigene Geschichte reflektieren. Die ebenfalls aus dem osteuropäischen Deutschland stammende Kanzlerin Merkel lobte Müller nach der Nobelpreisverleihung für eine „Lebenserfahrung, die von Diktatur, Unterdrückung und von Ängsten, aber auch von unglaublichem Mut spricht“.
Über das Heute
Eine Herta Müller allein reicht aber nicht. Denn ihre Lebensbeschreibungen, hätten sie selbst im heutigen China stattgefunden, sind vom Gros der Menschen weit entfernt, so wie die Geschichte der großen Hungersnot und des Großen Sprungs nach vorn. Sie beschreiben nur die Vergangenheit. Wir aber brauchen mehr kulturellen Austausch, mehr Tatsachen, mehr Geschichten, die heute in Osteuropa und Russland stattfinden, sie müssen so wie im Film „Das Leben der anderen“ weitergegeben werden. Wir brauchen eine Herta Müller, die über das Heute schreibt.
Die Frankfurter Buchmesse hat so eine Plattform geboten. Leider ist eine solche Atmosphäre der Redefreiheit in China nicht gegeben, auch nicht in den Frankfurter Ausstellungsräumen des Ehrengastes China.
Aus dem Chinesischen von Roman Mendle, Kristin Kupfer und Jost Wübbeke.
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