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Herr Öff! Öff! ist glücklich

Weil er ohne Strom und Wasseranschluss lebt, ohne Besitz, ohne bürgerlichen Namen. Weil er ein „Schenker“ ist. Expeditionen ins Reich der Konsequenz

von ANDREAS HERGETH

Mittagszeit im mecklenburgischen Dargelütz, einem Dreihundertseelendorf nahe der Kreisstadt Parchim. Ein Mann in Strickpulli und lila Stoffhose spaziert durch seinen Garten, hält ein Schälchen in der Hand, pflückt mal hier, mal da am üppig wild wuchernden Grün. Beifuß schmeckt gut, auch ein Salat aus Gierschblättern ist nicht zu verachten. „Ich würde mir nie einen Salatkopf kaufen“, sagt der Bärtige mit dem kleinen Pferdeschwanz.

Der oft lächelnde Mann, so Mitte, Ende dreißig (das wahre Alter spielt keine Rolle), trägt ein kleines Holzkreuz um den Hals, eine Helmut-Schmidt-Mütze auf dem Kopf, aber keinen Namen. Einen solchen hat er schon, doch keinen bürgerlichen. Der ist abgelegt – so wie alle gesellschaftlichen Konventionen – und der Personalausweis an den Bundespräsidenten zurückgeschickt. Herr „Öff! Öff!“ lebt gänzlich ohne Strom, fließend Wasser und Geld, verzichtet auf Telefon und Internet, hält sich keine Tageszeitung und hört natürlich auch kein Radio. Doch ist Bücherlesen erlaubt. Und jeden Mittag kommt die Post, bringt gerade einen Weleda-Katalog. „Den hat vor längerer Zeit eine Bewohnerin bestellt“, und der kommt wohl bis in alle Ewigkeit ins Haus.

Wie große Teile der Inneneinrichtung hat sich Öff! Öff! auch eine ganz eigene Lebensphilosophie zusammengebastelt, in der verschiedene Religionen verschmelzen, vor allem aber „spirituell gewaltfreie und anarchistisch-kommunistische Strömungen in der Tradition von Buddha, Mahavira, Jesus, Franziskus, Tolstoi und Gandhi“. So sieht dann auch einer der Gemeinschaftsräume im „Haus der Gastfreundschaft“ aus. Neben allerhand christlichen Plakaten, die zum Beispiel als „Belohnung: Ewiges Leben“ versprechen, hängen Bilder von Schiwa und anderen Göttern und Heiligen an den Wänden. Auf dem Boden liegen Matratzen, die als Schlafstätten dienen, an der Decke sind, Baldachinen gleich, bunte Tücher gespannt, dazu ein volles Bücherregal und ein Nippesmix vom Kerzenständer bis zur Plüschvariante von Donald Duck. „Uns ist die Religion egal“, erklärt Öff! Öff!, „wenn sie denn das Prinzip des gewaltfreien Teilens anerkennt.“

Dieses „uns“ scheint ein bisschen übertrieben, schließlich besteht die von Herrn Öff! Öff! begründete „Bewegung“ der „Schenker“ eigentlich nur aus ihm selbst, seiner Freundin, die sich „Tü! Tü!“ nennt, und etlichen Sympathisanten, verstreut im gesamten Bundesgebiet. Die „Bewegung“ strebt an, dass mensch lebt, ja überlebt, indem er und sie „mit anderen nur Geschenke austauscht und gewaltfrei teilt, um insgesamt verantwortliche Lebensweisen zu finden“. Solche Lebensweisen versucht Öff! Öff! in Mecklenburg mit dem „Haus der Gastfreundschaft“ aufzubauen, Freundin Tü! Tü! hat Ähnliches in Sachsen-Anhalt im Sinn.

Mit dreizehn Jahren began Öff! Öff!, der aus dem Ruhrgebiet stammt, durch die Lande zu ziehen, trat mit selbst gemalten Plakaten für die „radikale Konsequenz gewaltfreien Teilens“ ein. „Das erschien und erscheint mir besser, als ein Haus zu bauen oder ein Auto zu kaufen und am Spiel der Gesellschaft mit dem System aus Gesetzen, Verträgen und Geld teilzunehmen.“ Der junge Öff! Öff! wurde Christ.

Und nahm aber doch zunächst „Umwege“, wie er es nennt, studierte Theologie und Philosophie. „Aus heutiger Sicht hätte ich besser schon damals auf der Straße leben sollen, anstatt Zeit zu verlieren.“ Denn nach dem Studium wollte den jungen Mann niemand als Seelenhirten. Zu extrem waren seine Ansichten von „Jesus, der für Gewaltfreiheit im radikalsten Sinne steht“. Deshalb wohl hat er sich jetzt eben selbst zum „freischaffenden Priester“ ernannt. Ohne Gemeinde zwar, aber auch ohne fanatischen Missionierungszwang, von Dogmatismus ganz zu schweigen.

Im Gegenteil. Man könnte ihn auch ruhig beim bürgerlichen Namen nennen. „Jürgen Wagner“ ist alles andere als ein verbissen wirkender Aussteiger. Er wirkt ausgeglichen, hat ein sonniges Gemüt, weiß rhetorisch bestens zu unterhalten, glänzt mit manchem Bonmot, lacht gern und scheint eine Seele von Mensch – ein heutiger Gandhi sozusagen. Wie sonst könnte er seine Ideen ohne Konzessionen leben?

Das „Haus der Gastfreundschaft“, das Öff! Öff! seit drei Jahren leitet, wurde den Schenkern vom Besitzer, der heute in Frankfurt am Main lebt, vor sechs Jahren geschenkt. Nicht einmal ein Kaufvertrag über eine einzige symbolische Mark wäre im Sinn der „Bewegung“, denn „wir lehnen Verträge ab, setzen auf Gott, die Wahrheit und moralische Nutzungsrechte statt auf willkürlich vereinbartes Privateigentum“. Doch das schützt leider nicht vor Baufälligkeit des alten Bauernkatens. Öff! Öff! hat deshalb Hunderte Arbeitsstunden ins alte Gemäuer gesteckt, das halbe Dach geflickt, Holzwände auf dem Dachboden gezogen, damit Einzelzimmer entstehen, und Möbel gezimmert. Aus alten gefundenen und geschenkten Balken und Brettern lassen sich nämlich prima Hochbetten, Tische und Stühle bauen.

Bislang beherbergte das „Haus der Gastfreundschaft“ rund dreißig Gäste auf unterschiedliche Zeit. „Alternative Sozialarbeit“ nennt Öff! Öff! das offene Angebot. Wer kommt, lebt, so lange er möchte, im Haus, viele einfache Schlafplätze lassen sich finden. Die Gäste beteiligen sich am Sammeln von Wildfrüchten oder geschenkten Lebensmitteln – oder auch nicht. Zahlen keinen Pfennig. Wer will, kann, muss aber nicht mit Öff! Öff! reden. Der Schenkerphilosophie gemäß herrscht keinerlei Zwang. Manchmal leben hier zehn Personen gleichzeitig, gerade ist es ein einziger kauziger Wildgärtner, der auf getrockneten Kräutern schläft.

Manche bleiben jahrelang, andere einen Tag. Abgewiesen wird keiner, egal ob alkoholkranker Obdachloser oder psychisch Kranker – wie auch, das Haus steht Tag und Nacht offen und wird nie verschlossen. Es gibt zwar eine Küche, doch dort kommt kein Wasser aus der Wand. Auf einem Kohlenofen ließe sich wie anno dazumal Kaffeewasser mit Holzfeuer kochen, aber Kaffee gibt es keinen, nicht mal Malzkaffee. Ist ein Leben so ganz ohne Strom nicht problematisch? „Die Frage ist doch die“, so Öff! Öff!, „was man als Problem empfinden will. Für mich wäre das Vorhandensein von Strom ein Problem.“

Das lebensnotwendige Nass kommt aus einer Badewanne, die unter der Regenrinne platziert ist. Drei Wannen bilden ein simples System: Aus der obersten entnimmt Öff! Öff! das sauberste und damit Trinkwasser, die beiden anderen fassen Waschwasser. Selbstverständlich, dass es kein normales WC gibt. In dem alten Haus war auch nie eins installiert. „Wir mussten nur ein paar Spinnweben im Plumpsklo fegen, schon hatten wir unsere Toilette“, erzählt der Hausherr (der dieses Wort bestimmt ablehnen würde). Die Fäkalien landen auf dem Kompost im großen Wildgarten, in dem Brombeeren einträchtig neben Brennnesseln und Erdbeeren wachsen. Überall wuchert Topinambur. „Die Pflanze hat gleich mehrere Vorteile. Sie ist frosthart, wird von keinen Schädlingen befallen und ist gesund. Die Blätter ergeben einen leckeren Salat, und die Knollen sind roh oder gekocht essbar“, erklärt Öff! Öff!, der sich aber am liebsten von Wildkräutern und -pflanzen ernährt, Hauptsache roh.

Auf der Veranda stapeln sich Kisten mit Wintervorräten für die Gäste des Hauses: Walnüsse, Äpfel, Birnen, Möhren, Sellerie und Zwiebeln – aus den Gärten dem Projekt wohl gesinnter Nachbarn, auf Wochenmärkten erbeten oder aus den offenen Containern der Supermärkte gesammelt. Überall ist der Mann mit Rad und Anhänger bekannt, der für wildfremde Menschen um Nahrung bittet. Zum Dank für Geschenktes verschenkt Öff! Öff! gern und oft aus alten Teilen zusammengebaute Fahrräder. Die Dorfbewohner (wie Behörden und Polizei) begegneten Öff! Öff! zunächst mit Skepsis, doch mittlerweile genießt das Projekt „Respekt, Wohlwollen und zum Teil auch Verständnis. Viele verstehen unsere Ideale, unsere Träume, auch wenn sie anders leben wollen.“ Der für dörfliches Milieu entscheidende akzeptanzfördernde Umstand, dass es im und ums Haus „ordentlich und sauber“ ist, dürfte dazu wesentlich beigetragen haben.

Überhaupt wirkt das Anwesen idyllisch. Es herrscht Ruhe, die Vögel zwitschern, auf der Bank vorm Haus lässt es sich wunderbar in der Sonne sitzen. Fehlen eigentlich nur noch ein paar friedlich im Garten hoppelnde Häschen. Gar keine gute Idee, erinnert Öff! Öff! lachend, heißt „verantwortlich als gesunde Zelle im Organismus der Welt leben“ für einen Schenker doch auch, auf den Anbau von Pflanzen und das Halten von Tieren gänzlich zu verzichten. Man existiert eben von Geschenktem oder von Mutter Naturs wild wachsenden Gaben. Nur ein Kätzchen lebt mit Öff! Öff! zusammen. Aber das kriegt höchstens ein paar Streicheleinheiten geschenkt, das Futter muss sich der kleine Tiger allein erjagen.

ANDREAS HERGETH, 34, lebt in Berlin, schreibt über Kunst, Kultur, Alltag und Ostdeutsches. Beifuß und Topinambur hat er bei den Schenkern zum ersten Mal probiert

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