piwik no script img

Helmut Höge WirtschaftsweisenFüchse in höflicher Entfernung

Die auf der Nordhalbkugel lebenden Tiere und Pflanzen wandern wegen der Klimaerwärmung in Richtung Arktis, die auf der Südhalbkugel in Richtung Antarktis, so der Befund des Politologen Benjamin von Brackel in seinem Buch „Natur auf der Flucht“ (2021). Eine weitere Wanderbewegung ist die vom Land in die Stadt. In Berlin leben inzwischen viel mehr Arten als im weiten Umland. Hier müssen sie sich nach neuen Lebens- und Wirtschaftsweisen umsehen – und sich möglichst an die Menschennähe gewöhnen. Der Ökologe Josef Reichholf meint, dass die Dörfer sich der Natur verschließen und die Städte sich ihr öffnen.

Am Wannsee etwa kommen Badende und Wildschweine bereits ziemlich gut miteinander aus. Vor einiger Zeit besuchten wir ein Café am Schildhorn. Als ich anschließend das Auto aufschloss, drängte mich eine Wildsau zur Seite, sprang auf den Fahrersitz und suchte etwas Essbares. Als sie nichts fand, zog sie sich grummelnd zurück und drängte mich erneut zur Seite. Dabei sah ich etwa sechs Frischlinge hinter mir.

Am Rupenhorn wohnt die Veterinärin Dr. Malone, die täglich zwei Wildsauen mit Wasser versorgt, weil diese wegen eines Zauns nicht mehr an die Havel gelangen können. Sie sind schon fast handzahm, was den Obrigkeitsdenkern allerdings nicht gefällt: Die Wildtiere sollen den Menschen meiden.

Kürzlich stand ich nachts an der Ampel am Görlitzer Bahnhof, als ich einige Meter neben mir einen Fuchs sah, der auch die Skalitzer Straße überqueren wollte. Als die Ampel grün wurde, gingen wir beide los. Anscheinend glaubte er zu Recht, dass er sicherer über die Straße gelangte, wenn er sich nach mir richtete.

Im Prinzenbad, im Wannsee-Schulungsheimgarten von Verdi, auf einem Kreuzberger Schulhof und im Hinterhof vom Haus der Kulturen der Welt stellte sich regelmäßig ein Fuchs ein, wenn die Leute dort ihr Pausenbrot auspackten oder den Grill anschmissen. In höflicher Entfernung warteten sie darauf, etwas abzubekommen.

Auf einem Neuköllner Spielplatz sollten die Ratten vernichtet werden; statt Gift auszulegen hoffte man hier aber auf die Hilfe von einem Fuchs, der dann tatsächlich auf die Jagd ging. Auch auf dem Prager Platz in Wilmersdorf holt sich ein Fuchs immer mal wieder eine Ratte. Manchmal allerdings auch ein Kaninchen. Die werden auf den offenen Hinterhöfen in der Prinzregentenstrasse von den Anwohnern mit Gemüseresten gefüttert. Im Palast der Republik lebte zuletzt ein Fuchs, als das Gebäude abgerissen wurde, verschaffte man ihm ein neues Domizil im Parkkeller des Hotels am Alexanderplatz, das er auch annahm.

Ähnlich klug und urban verhalten sich die Krähen auf dem Hackeschen Markt und an den Imbissständen am Mehringdamm: Sie hoffen dort auf Brot- und Fleischreste. Anderswo haben die Krähen von den Flaschensammlern gelernt und durchsuchen die Abfallkörbe an den Straßenrändern.

Dreister als Füchse sind die Waschbären, bislang trauten sie sich jedoch nur bis in die Außenbezirke Spandau, Reinickendorf, Marzahn und Treptow.

Im Engelbecken brütet eine Schwänin neben den Cafétischen und ist so durch die Nähe der Gäste vor Eierdieben und sonstigen Feinden geschützt.

Ein Eichhörnchen springt regelmäßig von einem Baum auf den Balkon des taz-Autors Kuhlbrodt, wo dieser Futter für das Tier hinlegt. Im Prenzlauer Berg kam im letzten kalten Winter ein Eichhörnchen durch die offene Tür einer Küche im Erdgeschoß, wo wir zu fünft saßen. Sofort wurden ihm einige Nüsse hingelegt, es wollte aber nicht fressen, sondern sich nur aufwärmen.

In der Alten Schönhauser Straße in Pankow hängen an den Balkonen einige Nistkästen für Meisen. Bei einer Mieterin fliegen sie in das Zimmer, wenn die Balkontür offen ist und schauen ihr bei der Arbeit zu. Weil dort auch ein Elsternpaar sein Revier hat, fallen ihm oft die flügge gewordenen Jungmeisen zum Opfer. Bisher haben die Meiseneltern die Mieterin vergeblich gebeten, ihre Jungen vor den Elstern zu schützen.

Tauben und Spatzen muss man hier nicht erwähnen: Sie leben schon seit ewigen Zeiten in Berlin und kennen viele Überlebensmöglichkeiten. Derzeit nähern sich Goldschakale der Stadt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen