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Archiv-Artikel

Helden in blauen Schlafanzügen

Klassischer Fall von verspäteter Nestflucht: Björn Erik Sass macht in seinem komischen Debüt „Herrenbesuch“ Schluss mit dem Mythos Jugend

Es gab schon junge Romanfiguren, die sich so lange in schwärmerischen Träumen verloren, bis sie sich am Ende eine Kugel in den Kopf schossen. Begabte Söhne wurden von ihren ehrgeizigen Erziehern gedemütigt, andere gingen im Kampf mit dem übermächtigen Vater vor die Hunde. Neuerdings, da Konflikte mit bornierten Konventionen immer seltener werden, gehen jugendliche Helden eher an Familienstrukturen oder allgemeiner Ziellosigkeit zugrunde, versinken wie aus Widerstand gegen den Optimismus der Sechziger- und Siebzigerjahre in einem Strudel aus Alkohol, Drogen, Sex und Partys.

Was aber, wenn die jugendlichen Helden gar keinen Grund haben zur Selbstzerstörung? Wenn ihre Eltern nicht geschieden sind, wenn ihr finanzieller Background gesichert ist und die Zwänge des Berufslebens noch in weiter Ferne liegen? – Kurt und Jens, die beiden Helden in Björn Erik Sass’ Romandebüt „Herrenbesuch“, sind schon 26, als sie ihr behütetes Zuhause verlassen, ein klassischer Fall von verspäteter Nestflucht also – wie wir wissen, wird der Übergang zum Erwachsenenstatus, traditionell definiert durch Heirat, Familiengründung, Berufstätigkeit und den Erwerb sozialer Autonomie, besonders in saturierten Sphären immer weiter herausgeschoben. Der Plot ist schnell erzählt und erschöpft sich in dem, was im klassischen Adoleszenzroman als der Versuch der Entwicklung eines eigenen Wertesystems beschrieben wird: Die beiden ziehen zusammen in die größere Stadt, nach Kiel, sie wollen dort studieren, vor allem aber wollen sie endlich ihren ersten Sex haben.

Das Problem ist nur: Was macht die Differenz, wenn sie nichts hat, wovon sie sich differenzieren kann? Die Helden, die sich auf die Socken machen wollen, können einfach nicht cool geraten. Ihre Distinktion erschöpft sich darin, zum Frühstück einen Western zu gucken, aus dem Wohnungsputz ein Verfahren mit „klaren Absprachen, fester Aufgabenteilung, sinnvollen Arbeitsabläufen und modernster Technik“ zu machen, auf den Küchentisch PVC-Tücher mit Gute-Laune-Blumen aus dem Karstadt zu kleben und Thunfisch in einer kapverdische Marinade aus „Öl, Essig, Zwiebeln, Knoblauch, pürierten Tomaten, Salz, Piment, Ingwer, Meerrettich und schwarzem und grünem Pfeffer“ einzulegen. Anders als bei Christian Krachts Held aus dem „Faserland“ zum Beispiel verleiht das Wissen über die richtige Jackenmarke keinen Vorsprung. Dass sich Jens und Kurt ihre Drinks mit dem richtigen Gin mixen und Schokolade ausschließlich von Lindt essen, macht sie eher zu Freaks als zu bewundernswerten Außenseitern.

Der Schlimmere von beiden ist eindeutig Kurt, der Erzähler. Kurt bespricht seine Probleme mit seiner Homöopathin Frauke, jeden Donnerstagvormittag, eine gute Zeit für seine Verdauungsorgane, wie er meint. Er macht andauernd Yoga, massiert sich die Füße, rückt seine Möbel nach den Regeln von Feng Shui, bewahrt seine Bachblüten im Kühlschrank auf, sagt Nein zu allen Drogen und bekommt, wenn er im Freien pinkeln muss, schwere Blasenentzündungen. Sein Mitbewohner und bester Freund Jens ist da eindeutig leichter zu ertragen. Anders als sein Mitbewohner hält er verzweifelt an einem letzten Rest Männlichkeit fest. Er studiert Maschinenbau und glaubt „an das Greifbare und Machbare“. Wenn er seinen stumpfen Techno hört, macht er dazu „einen dicklippigen Genießermund“. Kurts verfeinerte Körperwahrnehmung lehnt er als „spiritistische Spinnerei“ ab. Obwohl, wenn man genauer hinliest: Auch beim männlichen Jens muss man so einiges aushalten. Zum Beispiel fährt er seine hellblauen Schlafanzüge zu seiner Mutter nach Hause, um sie von ihr bügeln zu lassen. Und weil er so gern über die Körbe plaudert, die er bei Frauen einstecken muss, wird er Rattan-Lindemann genannt. Am Anfang dieses irre komischen und genauen Romans gibt es eine Szene, in der Jens und Kurt ihre Freundinnen Antje und Siggi einladen, zwei Frauen, die die Jungs auf tolle Art toll finden. Siggi und Antje zählen keine Kalorien und sind Sport nicht gewohnt, aber für die Jungs reißen sie gern mal ihre T-Shirts hoch und zeigen ihnen ihre Wonderbras in Körbchengröße D. Doch Jens und Kurt unternehmen nichts, auch dann nicht, als Antje und Siggi ihnen erlauben, ihre Busen zu küssen. So ist man als Leser bester Hoffnung, dass es auf immer so weitergehen möge mit diesen hoffnungslosen Fällen, mit diesen sympathischen, unerträglichen und witzigen Kleinstadtprinzen. Doch dann baut Björn Erik Sass seinen Helden doch noch einen kleinen, verwässernden Notausgang in die Geschichte. Er lässt sie tatsächlich irgendwelche Frauen abbekommen. Auch wenn er, indem er ihnen Besserung verspricht, seine Figuren verrät: „Herrenbesuch“ ist ein Adoleszenzroman für Erwachsene, der endlich Schluss macht mit dem Mythos Jugend.

Das Schlimmste, was seinen Helden widerfahren kann, ist, dass ihnen nie etwas Schlimmes widerfahren wird. Das macht „Herrenbesuch“ sehr zeitgemäß und zeitgemäßer als viele andere Romane: Rebellion, Pathos und Tragik, das ist bei Björn Erik Sass alles ausverkauft.

SUSANNE MESSMER

Björn Erik Sass: „Herrenbesuch“. Antje Kunstmann Verlag, München 2003, 160 S., 17,90 €