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Heiterer Ernst des Lebens

■ Für 5.000 kleine BremerInnen begann gestern das erste Schuljahr nicht mehr mit preußischer Disziplinierung / Gleichberechtigung und Völkerfreundschaft vorgespielt

Schule, das ist der Ernst des Lebens und der Schlußstrich unter das Toben, Schreien und Spielen in den Tag hinein. Schule, das ist Leben nach der Uhr, ein Vormittag im Dreiviertel-Stunden-Takt. Und Schule heißt Disziplin, Ordnung, Sauberkeit.

Händchen falten,

Mündchen halten,

Ohren spitzen,

stille sitzen.

Das war meine erste Lektion, als ich vor 22 Jahren begann, die Schulbank zu drücken. An diesen Kanon preußischen Drills erinnerte gestern, am ersten Schultag für 5.000 kleine BremerInnen, nichts mehr.

Im Gegenteil. In der Turnhalle der Smidt-Schule an der Contrescarpe bekamen die Erstklässler Besuch von ihrem direkten Nachbarn. „Auch wenn hinter unseren Fenstern ernsthaft gearbeitet wird, dürft Ihr Euch auf dem Schulhof ruhig ordentlich austoben und Krach machen“, bietet ein freundlich gestimmter Innensenator Meyer an. Schon vor Beginn der Schulanfangsfeier haben die Älteren auf dem Schulhof den zwei Kindslängen hohen Senator

entdeckt und um Autogramme belagert.

Gleichberechtigung, Ökologie und Völkerfreundschaft sind die Themen der Szenen, die die Zweit-, Dritt- und ViertklässlerInnen ihren neuen MitschülerInnen vortragen. Nicht sittsam betulich, sondern spröde bis makaber darf es dabei zugehen, auch wenn die per Akkordeon und Gitarre begleiteten Lieder sich noch immer in deutschem C-Dur und

Vier-Viertel Takt über die Runden quälen. Der Fuchs stiehlt nicht die Gans, sondern verschleppt eine Ente aus dem Stall. Und nachdem sie öffentlich geschlachtet ist, singen die Kinder in roten Kostümen: „Auch die kleinen Füchse schmatzen mit und knacken Entenknochen.“

Da kann selbst die „Buten&Binnen„-Kamera keine Aufmerksamkeit mehr ablenken. Johlenden Applaus gibt es dann

für das Kind, das immer so laut kreischen muß, daß Tannenzapfen und Blätter von den Bäumen fliegen. „Ich hatte eine 100jährige Wut im Bauch, die ich jetzt rausgeschrieen hab“, freut sich das Kind über den therapeutischen Erfolg eines tödlichen Schrecks, den die anderen ihm verpaßt haben.

Selbstverständlich mischen sich in der Turnhalle Haut- und Paßfarben von Kindern und Eltern. Keine Klasse bleibt ohne exotische Gesichter und Namen. Und die Älteren zeigen den AnfängerInnen, wie es geht, wenn dann alle in einem Boot sitzen: Sie singen ein vielsprachiges Lied und verabschieden sich bei Lehrerinnen, Eltern und Erstklässlern mit:

Merhaba und güle güle,

guten Tag, auf Wiedersehn.

Ase

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