piwik no script img

Heißgeredet und berauscht

Bei seiner Heimpremiere im Europacup betätigt sich der VfL Bochum als Herzschrittmacher und erreicht durch ein 5:3 gegen Trabzon die nächste Runde  ■ Aus Bochum Christoph Biermann

Als gegen Mitternacht der Abend zu Ende ging, die kleine Schar der verbliebenen Besucher durch den Regen vom Ruhrstadion davonhuschte, sorgte Ralf Zumdick für einen letzten Höhepunkt des Tages. Der ehemalige VfL-Torwart und jetzige Assistent von Trainer Klaus Toppmöller zog leicht abwesend an seiner Zigarette und verstieg sich dann zur größten Untertreibung des Tages: „Es war schon spannend, ne?“

Bescheidener hätte man die Dramatik des ersten Europapokalspiels in Bochum nicht zusammenfassen können, das von den nach Schlußpfiff erschöpft hinwegwankenden Fans wahlweise als „Jahrhundertspiel“, „geilste Partie der Vereinsgeschichte“, „Klassiker“ oder „purer Wahnsinn“ bestammelt wurde. Wobei sie sich vorsichtig der Funktionen ihres Körpers rückversicherten – aha, das Herz schlug wirklich noch.

Drei Tore hatte der VfL Bochum in der zweiten Halbzeit gegen Trabzonspor erzielt und damit die Führung zwischenzeitlich auf 5:1 ausgebaut, obwohl die Mannschaft nach dem Platzverweis von Tomasz Waldoch kurz vor der Pause in Unterzahl spielte. „6:1 oder 7:1 hätten wir sie da weghauen müssen, so offen waren die hinten“, meinte Dariusz Wosz.

Naiv wie eine Hobbymannschaft hatte sich die Abwehr von Trabzonspor in den 20 Minuten nach dem Wechsel angestellt. Doch mächtig holten die Angreifer das verschlafene Team wieder ins Spiel zurück. Bis auf 5:3 kamen die Türken heran, und zu diesem Zeitpunkt, zwölf Minuten vor Schluß, hatten die Bochumer de facto nur noch acht Spieler auf dem Platz. Es wäre keine geringere Verstärkung gewesen, wenn Klaus Toppmöller anstelle von Hendrik Baluszyinski irgendeinen Tribünenbesucher auf den Platz gebeten hätte. Und Peter Peschel quälten bereits nach einer Stunde die ersten Krämpfe, so daß er „froh über jeden gelungenen Schritt“ war. Nur konnte er nicht mehr ausgewechselt werden.

So kam es, wie es kommen mußte – und dann doch nicht. Trabzonspor belagerte unaufhörlich das Bochumer Tor und schoß in der Schlußminute sogar jenen Treffer zum 5:4, der den VfL aus dem Uefa-Cup geworfen hätte – doch der Linienrichter erkannte auf Abseits.

Der glücklich verdiente Erfolg des VfL Bochum war vor allem einer von Trainer Toppmöller. Nach der „miesen Saison in der Bundesliga“ und „wütend über die letzte Niederlage in Hamburg“, hatte er kurzerhand Peter Peschel und Thomas Stickroth für spielfähig erklärt. „Verletzungen sind oft auch eine Kopfsache“, diagnostizierte Dr. Toppmöller. Die beiden Verletzten hatten vor dem Spiel zwei bzw. drei Wochen lang nicht ein einziges Mal mit der Mannschaft zusammen trainiert, und ihre Einsatzfähigkeit wurde bis kurz vor Anpfiff bewußt verschwiegen.

Ob Toppmöller seinen türkischen Kollegen Vural damit wirklich „hinters Licht geführt hat“, wie er meinte, sei dahingestellt. Auf jeden Fall gehörten die beiden Wundergeheilten zu den besten Spielern. Stickroth hielt die Abwehr zusammen und erzielte das 1:0; Peschel traf zum 5:1, bereitete ein Tor vor und zeigte sein bestes Saisonspiel. Das galt auch für den grippekranken Sergej Juran, dessen unverschämtes Tor per Hacke zu den schönsten des Jahres gehört. Und die Neuzugänge Mirko Dickhaut und Norbert Hofmann, vom Publikum im Ruhrstadion bislang eher reserviert bewertet, schafften endlich den Durchbruch.

„Wir haben uns selbst heißgeredet“, erzählte ein berauschter Toppmöller. Als zusätzliche Erhitzung sei in der Kabine der Artikel einer türkischen Zeitung aufgehängt worden, in dem der VfL als „Kanonenfutter“ dargestellt worden sei. Und dann hatte er auf seine Mannschaft eingeredet, ihr vom „höchsten Glücksgefühl“ internationaler Partien berichtet, hatte von seinem eigenen „höchsten Glücksgefühl“ gesprochen, den VfL Bochum zu seinem ersten internationalen Auftritt ins Ruhrstadion zu führen. Der Bochumer Trainer, der auch nach den schlechten Spielen in der Bundesliga die Ruhe bewahrt hatte, brachte die Gefühlsmaschine im richtigen Moment auf volle Touren.

„Hoffentlich haben viele VfL- Fans das Spiel aufgenommen, das werden sie nämlich bestimmt aufheben“, meinte Dariusz Wosz. Und wenn Ralf Zumdick sich das Video noch einmal anschaut, wird er sich in seiner Einschätzung, daß es „schon spannend“ war, sicherlich bestätigt finden.

Trabzonspor: Mecin – Iskender (54. Osman), Ogün, Rada (71. Kasim) – Mehmet (58. Cetin), Misse-Misse, Tolunay, Abdullah, Orhan – Hami, Vugrinec

Zuschauer: 24.500; Tore: 1:0 Stickroth (22.), 1:1 Misse-Misse (30.), 2:1 Juran (44.), 3:1 Juran (51.), 4:1 Dickhaut (60.), 5:1 Peschel (68.), 5:2 Ogün (73.), 5:3 Osman (78.)

gelb-rote Karte: Waldoch (45./wegen wiederholten Foulspiels)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen