: Heiße Kämpfe im Eismeer
■ Die scheidende Choreographin des Bremer Tanztheaters, Susanne Linke, verbannte Kleists „Penthesilea“ ins Eismeer
Und der Geschlechterkampf geht doch noch weiter. Schritt, Schritt, Schritt, Hocke, Ausfallschritt – „HA!“ tönt es aus fünf Männerkehlen. Schritt, Drehung, Schritt, Drehung, Platz, Schritt – „He!“ rufen die fünf Frauen von den amazonischen Inseln weit hinter den Säulen des Herakles, Kurs Nordnordwest und dann immer geradeaus, bis Dir, o Abenteurer auf Deiner Karavelle, selbst im Sommer eine Scholle Packeis entgegentreibt. Die Ricola-Kräuterbonbons haben zwar die Schweizer erfunden. Aber die Sage, Legende, Tragödie von den Amazonen und den Helden ist eine Geschichte aus dem südlichen Eismeer. Das lehrt jedenfalls Susanne Linke, die scheidende Leiterin des Bremer Tanztheaters, in ihrer wohl letzten Bremer Choreographie namens „H2O Penthesilea Ping.“ im Schauspielhaus.
Es rieselt Schnee. Fünf Amazonen recken Dir ihre entblößten Oberkörper entgegen, drücken ihre rechte Brust mit der flachen Hand zur Seite und verschwinden dann. Ruckend öffnet sich der Vorhang, ruckend nähert sich das Standbild einer bald untergehenden Eismeer-Kultur auf ihren Eisschollen. Die Eskimos, o Abenteurer, haben über 20 verschiedene Worte für Schnee. Aber unser Eismeervölkchen da oben auf der Bühne hat mindestens 200 verschiedene Einfälle dafür, was sich aus Schollen aus Styropor alles bauen lässt: Türme, Tempel, Mauern und Häuser entstehen, verschwinden und entstehen wieder.
Dann haben die BaumeisterInnen fertig. Es macht ritsch-ratsch-klick, und Du merkst: Rechts steht ein Frauentempel und links eine Männermauer. Denn hier ist nicht eine, sondern es sind zwei Kulturen am Werk. Und wo zwei Kulturen auf engem Raum am Werk sind, könnte es bald rappeln, knistern und gefährlich werden. Als die Geschichte von den Amazonen und den Helden noch nicht im Eismeer, sondern in Kleinasien spielte, erzählte sie von einer Frau namens Penthesilea und einem Helden namens Achill. Sie waren befeindet und zugleich liebten sie sich. Ihr Kampf war Liebkosung, und ihre Liebkosung war tödlich. Oben im Eismeer bei Susanne Linke lieben und kämpfen gleich mehrere Penthesileas und Achills. Nach der Zerstörung der Tempel führen sie Krieg. Doch sobald sie Krieg gegeneinander führen, führen sie ihn miteinander. Und wenn sich einmal ein Paar aus dem Ensemble herauslöst, tanzt es ein bisweilen akrobatisches Gemisch aus Aufbäumen und Erlahmung, aus Annäherung und Erniedrigung. Immer bleibt dabei der Mann zuerst reglos liegen und erinnert in seinem Liegenbleiben daran, dass hier doch ein klassisches Trauerspiel (von Kleist nämlich) zu Tanztheater gemacht worden ist. Denn ihre Übersetzung der gesprochenen in eine getanzte Tragödie hat Susanne Linke überraschend nahe an der Vorlage belassen, auch wenn zusätzlich das Wetter verrückt spielt.
Mit Styroporblöcken, Folien, Lichtfarben und anderen schlichten Mitteln zaubern die Choreographin und ihr Ausstatter Thomas Richter-Forgách eine Art globale Erwärmung auf die von riesigen weißen Duschvorhängen umgebene Bühne. Scheinbar mit der wachsenden Energieleistung des durch vier Neulinge ergänzten Ensembles steigt die Temperatur. Die Ausstattung, eine um Kompositionen von Ligeti, Scelsi, Wagner und anderen ergänzte Soundcollage (von Wolfgang Bley-Borkowski), sowie freilich die zehn TänzerInnen nehmen das abenteuerhungrige Publikum mit auf eine Reise durch die Klimazonen, die im ewigen Eis beginnt und in Wüstenhitze endet. Wieder sieht und fühlt man dabei die typischen Susanne-Linke-Elemente. Das Ritsch-ratsch-klick bei der Fertigstellung der Gebäude ganz am Anfang ist ihre Metapher für die Öffentlichkeit, die sie in anderen Choreographien schon in Gestalt von Fotoreportern hat auftreten lassen. Der Einsatz von Stimmen und Muttersprachen, von stakkatohaftem Männergebrüll und leiserem Frauengekicher ist ihr ein weiteres Mittel, wirkungsvolle Atmosphären zu erzeugen. Und der Einfall, das Ensemble in einer Szene vor einer Dusche Schlange stehen zu lassen, spricht für Susanne Linkes choreographischen Mut und das Vertrauen in ihre TänzerInnen, selbst scheinbare Nichtigkeiten als spannungsvolle Miniatur voller genau abgeschauter Alltagsbeobachtungen darzustellen. Erneut wimmelt diese Choreographie von kleinen Witzen oder längeren Slapstick-Passagen und offenbart die Geisteshaltung am Bremer Tanztheater, nicht alles so bierernst zu nehmen.
Und doch ist diesmal etwas anders. Susanne Linke, die am Ende der Spielzeit ans neue Choreographische Zentrum nach Essen gehen und die Leitung des Bremer Tanztheaters ganz an Urs Dietrich übergeben wird, hebt im Programmzettel hervor, dass ihre TänzerInnen die Soli und Duette eigenständig entwickelt haben. Die in die Humoreske bis Groteske hineinreichenden Passagen des Geschlechterkampfes (vor allem Ester Ambrosinos und Gilles Welinskis Slapstick an der Kommode) wirken also wie Sahnehäubchen auf der rund 75minütigen Gesamtchoreographie. Und an deren Schlussabschnitt namens „Wahn“ ist es Susanne Linke plötzlich doch ganz ernst: Penthesilea eins, zwei oder fünf (Lara Martelli) heult wie ein Hund, Achill drei, vier oder eins (Miroslaw Zydowicz) liegt tot am Boden, und eine letzte Amazone (Kiri Haardt) reckt sich noch. Für nichts und wieder nichts war der ganze Kampf. Man sitzt am Ende da im Parkett und ist regelrecht bewegt und ergriffen von diesem Bild der Vergeblichkeit. Das Publikum spendet – vielleicht einig im Gefühl, es selbst besser machen zu wollen – lang anhaltenden Beifall.
Christoph Köster
Weitere Aufführungen: 17., 22. und 28. Dezember sowie am 27. und 29. Januar um 20 Uhr im Schauspielhaus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen