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■ Heiner Geißler zum Streit um die Pflegeversicherung„Schleyer hätte so was nie gemacht!“

taz: : Herr Geißler, die Koalition hat in der letzten Woche mehrfach ergebnislos über die Pflegeversicherung beraten, um am Schluß eine Denkpause zu vereinbaren. Wie lange darf diese Pause dauern?

Heiner Geißler: Nicht über Pfingsten hinaus. Sonst werden wir mit den parlamentarischen Beratungen nicht rechtzeitig fertig.

Können Sie Ihren Wählern noch versprechen, daß die Pflegeversicherung in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird?

Wenn es nach mir ginge, könnte ich es versprechen. Aber ich bin nicht alleine. Ich kann nur die begründete Vermutung äußern, daß die Pflegeversicherung noch in dieser Legislaturperiode kommt.

Am Mittwoch haben die deutschen Wirtschaftsverbände praktisch geschlossen die bisherigen Modelle der Bundesregierung als „Kampfansage“ bewertet. Klassenkampf von oben?

Es war auf jeden Fall eine nationale Schande für die deutschen Arbeitgeber. Hanns-Martin Schleyer hätte so etwas nie gemacht: Die Wirtschaftslobby gegen die zwei Millionen Hilflosesten der Gesellschaft zu mobilisieren. Das war nicht Klassenkampf von oben, sondern Ablenkungsmanöver, Verschleierungstaktik, Nebelwerferei. Die Verbände wollen von dem eigentlichen Desaster ablenken. Die Rezession hat zwar auch etwas mit Lohnstückkosten und Arbeitszeitverkürzung zu tun. Vor allem aber ist sie auf schwere Managementfehler zurückzuführen. Die Chemische Industrie zum Beispiel hat in den letzten zehn Jahren 100 Milliarden Mark an Gewinnen gemacht, die Stahlindustrie ähnlich. In der Zeit der Prosperität haben es die deutschen Unternehmen jedoch versäumt, zu rationalisieren und sich am Markt zu orientieren. Davon soll jetzt abgelenkt werden: An der Rezession seien nicht die Manager und die Tarifparteien schuld, sondern die zwei Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland.

So oder so: Die Wirtschaft steckt in der Krise. Die Kompensationsmodelle für die Kosten, die die Pflegeversicherung den Unternehmen verursachen wird, reichen ihnen nicht aus.

Wir haben sehr konkrete und exakt berechnete Vorschläge gemacht, um einen Anstieg der Lohnnebenkosten durch die Pflegeversicherung zu verhindern. Deshalb ist die Argumentation der Unternehmer hanebüchen und fast schon unmoralisch. Ihnen geht es nicht um eine seriöse Kalkulation. Sie wollen die Pflegeversicherung selbst verhindern.

Die SPD hat der Union angeboten, gemeinsam die Pflegeversicherung durchzusetzen. Gerät die FDP nun ins Abseits?

Ich bleibe bei der Koalitionsvereinbarung ...

Die FDP aber offenbar nicht.

Ich denke doch, daß die Liberalen sich nicht wie Hasardeure und Hütchenspieler aufführen werden. Ich baue deshalb immer noch darauf, daß wir die Pflegeversicherung mit der FDP zusammen verabschieden können.

Womit können Sie der FDP denn drohen, falls sie bockbeinig bleibt?

Das ist keine Sache, die man durch Drohungen lösen kann. Aber die FDP weiß selbst, daß dies eine schwere Koalitionskrise auslösen würde.

Stellt sich da die Koalitionsfrage?

Das ist schwer vorauszusagen. Aber die Auseinandersetzung kann ganz hart werden.

Zur Zeit muß es für den Bürger so scheinen, als beschäftige sich die Bundesregierung mehr mit der Entsendung von Soldaten in alle möglichen Weltteile als mit den Problemen der Bürger im Land. Ist das nicht gefährlich?

Wenn das zuträfe, würde ich Ihnen zustimmen. Aber die Wahrheit ist ja, daß wir vor wenigen Wochen den Solidarpakt verabschiedet haben. In der nächsten Woche wird im Bundestag der Asylkompromiß verabschiedet, wie immer man über ihn denken mag. Die Außenpolitik drängt sich naturgemäß in den Vordergrund, allein wegen der Ereignisse, die praktisch vor unserer Haustür stattfinden. Was Somalia angeht: Irgendwo müssen wir auch unser Engagement in der UNO zeigen.

Was viele Bürger, vor allem in Ostdeutschland, viel stärker beschäftigt, ist der Streik und die Frage ihrer Tarifverträge. Aus Bonn hörte man dazu nichts.

Das ist keine Sache der Bundesregierung, sondern ausschließlich eine Sache der Tarifparteien.

Bundeseigene Unternehmen – die der Treuhand – hatten sich den Arbeitgebern angeschlossen. Die Bürger bekamen den Eindruck, die Regierung sei Partei.

Das ist in der Tat eine ganz gefährliche psychologische Entwicklung für meine eigene Regierung. Die IG Metall hat sich in den letzten Wochen als die Organisation versucht darzustellen, die knallhart die Interessen der Ostdeutschen vertritt. Die Arbeitgeber haben einen schweren Fehler gemacht, als sie dieses psychologische Problem verkannt haben. Es hat einen gegeben, der ehrlich bemüht war, den Schaden zu vermindern. Das war Kurt Biedenkopf. Und er hatte Erfolg.

Hätte er nicht mehr Unterstützung aus Bonn bekommen können?

Die hat er bekommen, auch von mir. Ich hatte ja einen Vorschlag gemacht, der dann aber von den Tarifpartnern nicht aufgenommen wurde: den Investivlohn. Die Lohnerhöhung hätte in der Form von Eigentumsübertragungen stattgefunden. Die Barlöhne wären der Produktivität nicht davongelaufen. Dieses Modell hätte einen weiteren großen Vorteil: Zur Zeit ist es doch so, daß Unternehmen, die in Ostdeutschland investieren, 50 Prozent ihrer Investitionssumme vom Steuerzahler erhalten. Es sind die Lohnsteuerzahler, die überwiegend diese Summen finanzieren. Sie gehen aber voll in das Eigentum der Kapitaleigner. Hier droht eine gesellschaftspolitische Zeitbombe.

Eine Umverteilung von unten nach oben?

Ja, das ist wirklich eine Umverteilung von unten nach oben.

Herr Geißler, Sie haben erst kürzlich erneut Ihre Partei davor gewarnt, einen Wahlkampf rechts von der Mitte zu führen. CDU-Generalsekretär Peter Hintze und andere haben angekündigt, die Innere Sicherheit zu einem der zentralen Wahlkampfthemen zu machen. Droht damit ein rechtspopulistischer Wahlkampf?

Ich hoffe nicht, daß wir einen solchen Fehler machen. Die Wahlauseinandersetzung wird sich vor allem auf die Frage der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Entwicklung konzentrieren, sowie auf die Außenpolitik.

Die Innere Sicherheit sollte kein Wahlkampfthema werden?

Wir werden das Problem – zu wenig Polizei, zu viel Verbrechen – nicht aussparen können. Nur: Es besteht die Gefahr, daß sich dieses Thema gegen die Union selbst wendet. Wir sind ja seit über zehn Jahren an der Regierung. Interview: Hans-Martin Tillack

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