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■ Heimatkunde (1): Ein heimwehgeplagtes Gedicht von 1907 wurde Volksliedgut. Seine Verfasserin hatte das NachsehenWo de Nordseewellen...

„Heimatkunde“ – unter diesem Titel werden sich hier in loser Folge ein paar der Stillen im Land zu Wort melden, um der endlich geeinten Nation anhand beispielhafter Vorgänge aufzuzeigen, was sie eigentlich an sich hat. Weil aber aus allen Ecken und Enden dieser Republik gleichermaßen berichtet und solcherart der Grundstock für eine neuen deutschen Sagenhort gelegt werden soll, ist auch die Leserschaft aufgerufen, Texte oder Materialien beizusteuern. Wie immer zu treuen Händen der Wahrheit-Redaktion.

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Wann immer sich auf dem Bildschirm der obligate volkstümliche Saustall zusammenrottet und nach allerlei Plastik-Alpengaudi das norddeutsche Proporzlied an die Reihe kommt, kann es bevorstehen. Präsentiert gar das norddeutsche dritte Fernsehprogramm „Lieder so schön wie der Norden“, ist es geradezu unumgänglich: „Wo die Nordseewellen...“, wahlweise dargeboten von einem rauhkehligen Shanty-Chor, milchzähnigen Halbwüchsigen oder auch Einzelpersonen in originalfriesischen Phantasietrachten.

So bekannt das Lied, so unbekannt jedoch seine Schöpferin, Martha Grählert, geboren am 20. Dezember 1876 in Zingst auf dem Darß, der Ostsee-Halbinsel im westlichsten Teil Pommerns. Vor den Altar hat sie später eine Kapazität auf dem Gebiet der Tierzucht geführt, Professor Max Müller. Der wurde anschließend – 1905 – an die Universität Sapporo nach Japan berufen. Martha, die bei der Eheschließung den Namen Müller-Grählert angenommen hatte, machte sich mit auf nach Fernost. Dort begann sie allerdings das Heimweh sehr zu plagen, dem sie mit ihren plattdeutschen Versen – nebenbei tatsächlich mit die innigsten, die je in dieser Sprache gelungen sind – irgendwie beizukommen hoffte. Der Anfang ihres Gedichts „Mine Heimat“ weicht allerdings von der heute geläufigen Version stark ab, er hieß, entsprechend ihrer Herkunft, „Wo de Ostseewellen...“ Den fertigen Text schickte sie nach Deutschland an die niederdeutschen Meggendorfer Blätter. Die druckten ihn 1907 erstmals ab. Die Neumünsteraner Journalistin Marianne Dwars, die sich mit dem Schicksal Martha Müller-Grählerts eingehend befaßte, hat auch die weitere Entstehung des Liedes eingehend zurückverfolgt.

„Zwei oder drei Jahre später schnürte ein Glasergeselle aus Flensburg sein Bündel, als er auf Wanderschaft in Richtung Schweiz auszog. Er legte die Verse zu seinem Gepäck, weil sie ihn auch mit seiner Heimat verbanden. An der Limmat angekommen, trat er in Zürich dem ,Arbeiter-Männergesangsverein‘ bei, der von einem Thüringer Dirigenten geleitet wurde. Ihm vertraute er das Heimatgedicht an, und dieser, Simon Krannig, ließ es sich erst einmal ins Hochdeutsche übersetzen. Der Inhalt begeisterte ihn so, daß er innerhalb einer halben Stunde eine Melodie komponierte. Der Glasergeselle erlebte die Schöpfung noch mit, doch 14 Tage später erklangen die Ostseewellen das erste Mal als Uraufführung an seinem Grabe. Ein paar plattdeutsche Sangesbrüder widmeten sie dem Norddeutschen als letzten Gruß.“

Die Vertonung verdanken wir also letzten Endes der Arbeiterbewegung. Als zweistimmiges Kunstlied gesetzt, war das Werk ab 1910 vom Notenverlag Schondorf in Braunschweig zu beziehen; ein Jahr später wurde es im „Plattdütschen Leederbook“ des Allgemeinen Verlages eingerückt.

Martha Müller-Grählert kehrte zu Beginn des Ersten Weltkrieges mitsamt ihrem Tierzuchtprofessor nach Deutschland zurück. Angekommen, mußte sie zu ihrem Schrecken feststellen, daß sich ihre „Ostseewellen“ bei den Plattdeutschsprechenden zwar nicht durchgesetzt hatten, ein geschäftstüchtiger Soltauer Verleger namens Fischer-Friesenhausen sich aber schamlos an ihrem Werk bereicherte. Er hatte Versionen in Hochdeutsch, Nord- und Ostseeplatt auf Postkarten drucken lassen, und ausgerechnet die Nordseeversion war bei der angepeilten Zielgruppe außerordentlich beliebt geworden.

Frau Müller-Grählert tat sich mit dem Komponisten Krannig zusammen, mußte dann aber fast zwei Jahrzehnte mit Verleger Fischer-Friesenhausen prozessieren, bis ihr 1936 wenigstens die Urheberrechte zugesprochen wurden. Fischer-Friesenhausen behielt die Verlagsrechte für die Noten – ein einträgliches Geschäft, denn das Lied gehörte zum Standardrepertoire aller Kur-, Tanz- und Promenadenorchester, seit es 1931 als Titelmelodie für den Hallig-Tonfilm „Heimat am Meer“ benutzt worden war. Als der Prozeß durch alle Instanzen war, lebte Martha Müller-Grählert, fast völlig erblindet und durch die Gerichtskosten rund um ihr Gedicht total verarmt, in einem Altersheim in Franzburg bei Stralsund. Allein, denn von ihrem Mann war sie geschieden worden. Drei Jahre später, im November 1939, ist sie dort verstorben.

Wie Müller-Grählert-Forscherin Marianne Dwars herausfand, wurde in ihrem Heimatort bald darauf ein mit ihrem Werk befaßter Müller-Grählert-Verein gegründet. Er bestand noch bis zum Ende der DDR. Für Auskünfte, wer wem in der Müller-Grählert- Ehe den Laufpaß gegeben hatte, waren die wenigen noch lebenden Vereinsdamen jedoch zu diskret und zu alt. Christian Meurer

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