Hedonismus als linkes Relikt: Das Lustprinzip der Politik
Der Hedonismus ist heute das vorherrschende gesellschaftliche Narrativ: Damit hat sich das Prinzip Genuss auch von allen eindeutigen politischen Zuschreibungen gelöst.
Die Grünen werden heute als hedonistische Bobopartei bezeichnet, was für bohemistisch-bourgeois steht. Dies ist eine treffende Beschreibung, wenn auch keine freundliche. Hedonismus ist hier als Vorwurf gemeint. Jörg Haider hingegen führte uns vor, wie Sex, Drugs and Rock n Roll heute aussehen. Damit ist nicht sein VW-Phaeton nach dem Unfall gemeint, sondern sein Lebensstil bis dorthin. Hedonismus als Lebens- (und Sterbeform) eines extrem rechten Politikers und Hedonismus einer gefühlt linken Partei - zwei widersprüchliche Spots. Sie zeigen eine Verschiebung, die so neu nicht ist.
Im Gefolge von 68 hat eine Poplinke die Lust als Lebensprinzip stark gemacht - gegen die langweiligen Spießer, also die Eltern, aber auch gegen die Kollegen von der dogmatischen, puritanischen Linken. Ihr war Hedonismus ein Glücks- und Freiheitsversprechen, das sich unmittelbar im Hier und Jetzt vollziehen ließ.
Genießen war sowohl Medium als auch Einsatz einer emanzipatorischen Rebellion. Es war Ausweg aus der Spießigkeit, Befreiung vom vorherrschenden Puritanismus mit seiner restriktiven Sexual-, Arbeits- und Lebensmoral: Es holte uns da raus. Hedonismus - das war das ganz andere, das pralle Leben.
Diese Schlacht hat der Puritanismus nachhaltig verloren. Spätestens Ende der 80er-Jahre hat die allgemeine Deregulierung auch das asketische Disziplinierungsprogramm ergriffen. Triebverzicht, Arbeitsmoral, protestantische Ethik wurden aufgeweicht und eine neue Erzählung setzte sich durch. Die des ausgelebten, vollzogenen Genusses.
Es gab und gibt nach wie vor einen Siegeszug des Hedonismus. Dieser ist heute das vorherrschende gesellschaftliche Narrativ. Damit aber hat sich dieser aber auch deutlich verändert. Das heute gültige Lustprinzip entspricht nicht exakt dem, was sich die hedonistischen Rebellen darunter vorgestellt hatten.
Zum einen hat der Hedonismus keine eindeutige gesellschaftliche Zuschreibung mehr. Es gibt keine auserwählten Träger des Genießens. Dieses ist weder den Jungen noch den Eliten vorbehalten. Es hat sich verallgemeinert und geht durch alle Schichten hindurch: eine Demokratisierung des Genießens.
Damit geht auch eine räumliche Ausbreitung einher. Man muss nur einmal abends durch die Stadt gehen und sieht, wie sich das Leben verändert hat: endlose, rappelvolle Lokale in allen Bezirken - für jede Lebensform, jede Neigung, jeden Spleen. Der Hedonismus hat die ihm vorbehaltenen armseligen Schauplätze verlassen und immer neue erobert.
Dass der Hedonismus sich dabei nicht als Lebensstil, sondern als vorherrschende Form der Freizeitgestaltung durchgesetzt hat - wie die Süddeutsche jüngst beklagte -, stimmt nur teilweise. Denn Genießen bedeutet nicht nur Ausschweifung nach Büroschluss. Es hat vielmehr den Arbeitsbegriff selbst affiziert.
Arbeit ist nicht mehr das "alterprobte asketische Mittel" (Max Weber), also Pflicht, Entbehrung, Triebabwehr. Sie soll nicht mehr das Andere des Genießens sein, sondern vielmehr dessen Vollzug. Wie sich deutlich an der Verschiebung des Stellenwerts von Drogen ablesen lässt, die zunehmend nicht mehr den Exzess jenseits, sondern das Funktionieren in der Arbeit befördern - vom Kokain der Manager bis zum Alkohol der Politiker.
Von allen Verschiebungen, die die Verallgemeinerung des Hedonismus an diesem vorgenommen hat, wiegt jedoch eine am schwersten: Der Hedonismus hat sich auch von allen eindeutigen politischen Zuschreibungen gelöst. Er, der heute vornehmlich als hedonistischer Konsum gelebt wird, ist nicht mehr notwendig links.
Nun, wo er dominant ist, ist der Genuss nicht mehr subversiv. Selbst dort, wo er sich noch rebellisch geriert, reproduziert er den gesellschaftlichen Konsens. Denn es gibt heute ein Einvernehmen, worin ein gutes Leben besteht: in der Lustbefriedigung. Statt Genuss als politische Haltung gibt es ein Durchfluten aller Lebensbereiche mit Hedonismus.
Die frühere Allianz zwischen Hedonismus und linker Überzeugung sei, so Diedrich Diederichsen, nur mehr ein Relikt. Heute folgen alle der Erzählung von der Lustbefriedigung als Prinzip des gelingenden Lebens.
Alle - außer dem Papst. Für ihn ist Hedonismus nach wie vor haltlose Hingabe an die Triebe, Folge von Nihilismus und Werteverfall der Spaßgesellschaft. Man kann den Hedonismus aber auch ganz anders kritisieren. Der Hedonismus war das Versprechen einer versöhnten Gesellschaft.
Im allgemeinen Genießen sollten sich ideologische Differenzen in einer Einheit der Befriedigung auflösen. Hedonismus sollte der Weg sein, den Individualismus zu vergesellschaften. Dieses Versprechen hat er nicht gehalten.
Gerade jetzt zeigt sich sehr deutlich, dass die Lustbefriedigung nur dann eine Gesellschaft befrieden könnte, wenn diese wirklich neutral wäre. Wenn sie von allen politischen Zusammenhängen befreit wäre. Aber der Hedonismus bringt keine Erlösung, weil er keine Einheit im Genießen herzustellen vermag. Tatsächlich ist es heute vielmehr so, dass es der Hedonismus ist, der neue Differenzen eröffnet. Auch im Politischen. Das führt uns zurück zu den Eingangsbeispielen.
Auch die Rechte hat ja den Hedonismus längst entdeckt. Auch hier übrigens nicht unwidersprochen. Auch rechts gibt es eine Kontroverse zwischen Askese und Lust. Und auch hier ist eindeutig, wer den Ton angibt. Da gab es Haiders offensichtlich zur Schau gestellten Hedonismus (der so merkwürdig ambivalent blieb: einerseits schamloses Genießen zeigen und andererseits dennoch ein Doppelleben führen).
Seine krachlederne Version von Sex, Drugs and Rock n Roll hatte offenbar großen Attraktionswert. Noch deutlicher aber wird die politische Nicht-Neutralität des Genießens bei H.-C. Strache. Er zeigt mit seiner Disco- und Showpolitik eine Art von Hedonismus, die man "Differenzgenuss" nennen könnte: aggressive Triebabfuhr, Hedonismus gegen andere. Hier verbindet sich Wut mit Genuss. Bei dieser Verbindung geht es nicht darum, bestehende Formen mit anderen Inhalten zu füllen.
Wie das rechte Bands gemacht haben, die in der 90er-Jahren die Popmusik usurpiert haben. Es geht vielmehr darum, direkt ans Lebensgefühl der Fun-Generation als solches anzudocken: Kampfgenießen gewissermaßen.
Während die österreichischen Grünen zum Beispiel Connaisseur-Hedonismus mit reichem Wissen um feine Unterschiede betreiben, ist die Lust am leeren Aufbegehren die Form, die der Hedonismus der politischen Rechten heute annimmt.
Der Genuss eröffnet gewissermaßen eine neue Klassendifferenz: verfeinerte gegen unverfeinerte Triebabfuhr. Nur die alten Volksparteien wie in Österreich, ÖVP und SPÖ, können da nicht mit. Sie stehen nach wie vor für Triebabwehr.
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