: (Haut-)Farbe bekennen?
Schlagloch von Charlotte WiedemannÜber Erfolge und Schwächen postkolonialer Kritik
ist freie Autorin und wurde mit ihren Reisereportagen aus muslimischen Ländern bekannt. Im März erschien ihr jüngstes Buch „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“ (dtv).
Die deutsche Kolonialgeschichte scheint heute so präsent wie nie zuvor seit 1945. Von der Herkunft ethnologischer Objekte bis zu den berüchtigten Schädelsammlungen: Manche Institution der bürgerlichen Mitte, gestern noch immun gegen Selbstzweifel, zeigt nun Anflüge von Unrechtsbewusstsein. Und endlich gibt es Gelder, um wissenschaftlich zu ergründen, wie all das, was larmoyant als „gesammelt“ bezeichnet wird, in die Vitrinen weißer Weltbetrachtung gelangte.
Diese Erfolge sind dem unermüdlichen Einsatz von Aktivisten zu verdanken, ebenso einzelnen Pionieren im etablierten Kulturbetrieb. Chapeau! Aber die postkoloniale Kritik zielt ja auf viel mehr (und kann sich deshalb nicht allein auf die Jahre deutschen Kolonialbesitzes, 1884–1918, beschränken): Es gilt, die hierarchische Weltauffassung zu denunzieren und jene white supremacy, die im Herzen des europäischen Kolonialismus blühte und dessen formales Ende weithin ungeschoren überlebte.
An dieser Stelle verschwimmt nun das Bild vom Aufklärungserfolg. Im Umgang mit dem uns innewohnenden kolonialen Geisteserbe wirkt Deutschland heute ähnlich gespalten wie vor einigen Jahrzehnten gegenüber der NS-Vergangenheit.
Dunkles Afrika
Einerseits ist viel mehr Deutschen als früher bewusst, dass die Welt nicht weiß ist – durch Proteste rund um den Globus; durch die Erfahrung von 2015, wie Flüchtende Grenzen obsolet machten; durch die Lektionen, welche die Figur Trump erteilt. Doch steht der Verunsicherung weißer Identität auch Gegenteiliges gegenüber, eine massive psychische Abwehr, bei uns und in ganz Europa: Egalitäre Auffassungen vom Menschen werden verlacht und frei nach Nietzsche verhöhnt als Versuch der Schwachen, die Starken mithilfe des schlechten Gewissens in die Knie zu zwingen.
Eine Atmosphäre tiefen Zwiespalts; intellektuelle Milieus entwickeln sich in beide Richtungen. Unter jungen Weltoffenen hat alles Postkoloniale einen gewissen Schick; man kann sich auf der richtigen Seite der Geschichte fühlen und an attraktive Bewegungen wie Black Lives Matter andocken. Auf der anderen Seite wachsende Ressentiments gegen alles Fremde.
Mit Blick auf die Flüchtlingsabwehr wirkt die postkoloniale Kritik bestürzend aktuell: Afrika bleibt das Dunkle, das ganz Andere, für das eigene Regeln ersonnen werden. Nur macht gerade dieser Druck der Aktualität der antikolonialen Aufklärung zu schaffen: Sie überfrachtet sich mit uneinlösbaren Ansprüchen.
Die Ausstellung „Der blinde Fleck“ in Bremen steht beispielhaft für Verdienste und Schwächen. Mit der Bremer Kunsthalle stellt sich, in Kooperation mit Afrika-Netzwerk und Studierenden, erstmals ein deutsches Kunstmuseum seiner kolonialen Vergangenheit. Der Kunstverein, 1823 gegründet und heute noch Eigner des Museums, geht auf das Mäzenatentum von Kaufleuten zurück, die am Kolonialhandel reich wurden. Faszination für Exotisches und Ausbeutung der exotisierten Subjekte paarten sich ungeniert, auch bei Künstlern der frühen Moderne. Emil Nolde, 1913 embedded in eine pazifische Kolonie gereist, malte mit einem entsicherten Revolver zur Seite.
So nötig es ist, die Machtbeziehungen bei der Entstehung von Kunst aufzudecken, so heikel wird die „postkoloniale Lektüre“ von Gemälden, wenn politische Gesichtspunkte die Kunstkritik bestimmen. Zumal Nolde den Nazis später als entartet galt. Können wir Mehrdeutigkeit nicht aushalten?
Und wenn in 100 Jahre alten Werktiteln ein „Negermädchen“ zum „N****mädchen“ wird und ein „Eingeborener“ sich in noch mehr Sternchen auflöst: Ist das wirklich sinnvoll zu begründen mit der Rücksichtnahme auf traumatisierte Opfer von Rassismus?
Ich zucke beim Wort Neger zusammen, ganz ohne afrikanische Vorfahren. Gewiss: Menschen mit afrikanischen Wurzeln sollen in der Debatte über Kolonialismus eine vernehmbare Stimme haben. Aber ich halte es im Kampf für eine egalitäre Gesellschaft eher für eine Falle, wenn Hautfarbe zum Gradmesser von Betroffenheit wird und aus der Betroffenheit eine Art Deutungshoheit abgeleitet wird. Niemand repräsentiert heute die einst Kolonisierten. Und ich habe außerhalb des weißen Europas zu viel Rassismus erlebt, um den Ausdruck People of Color für ein Synonym von Nicht-Rassist oder Nicht-Täter halten zu können.
Der erste deutsche Genozid
So sehr ich für mein eigenes Schreiben das Grundanliegen des postkolonialen Ansatzes teile: Es fröstelt mich, wenn sich Kritiker eine Aura moralischer Unfehlbarkeit zulegen.
Der deutsche Kolonialismus war im öffentlichen Bewusstsein lange von der Schoah verdrängt. Die Washington Post sprach kürzlich in einer Überschrift in Bezug auf Herero und Nama unumwunden vom „ersten deutschen Genozid“; derartiges scheuen deutsche Medien. Vielleicht sollten die Nachfahren von Auschwitz-Überlebenden künftig gemeinsam mit den Nachfahren namibischer Opfergruppen in deutschen Schulklassen sitzen – große, offene Fragen. Einige postkoloniale Aktivisten wollen den Mai 1945 nicht länger als Befreiung bezeichnet sehen, da die französischen und britischen Alliierten nur durch den Blutzoll und die Ausbeutung der Kolonisierten gesiegt hätten. Ich vermute: Auch an einem solchen Primat von Geschichtsbetrachtung verhebt sich die postkoloniale Position.
Kürzlich fiel mir das Buch „Black Power“ in die Hände, 1954 erschienen; der Titel wurde später zum Stichwort schwarzen Selbstbewusstseins. Der Afroamerikaner Richard Wright beschrieb darin seine erste Begegnung mit Afrika: Ghana am Vorabend der Unabhängigkeit. Wrights Buch liest sich aus heutiger Warte stellenweise politisch überraschend unkorrekt. Obwohl selbst schwarz, ringt der Autor in der Darstellung des afrikanischen Menschen ständig mit der Sprache und mit sich selbst. Gleichwohl war sein Buch ein Akt gelebter Solidarität.
Meine Bitte: Achtet das Fehlbare! Jeder Versuch postkolonialen Denkens und Schreibens kann nur eine Annäherung sein – Annäherung an ein fernes Ziel: dass Menschen einander ohne Herrschaftsabsichten betrachten können.
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