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Hausbesuch Tatjana Kastein und Ondřej Záruba treten immer noch in dem Zirkus auf, in dem sie sich kennengelernt haben. Nun haben sie Nachwuchs bekommen – und machen ohne Pause weiterHeute hier, morgen fort

Von Ann Esswein (Text)und Amélie Losier (Fotos)

Zu Besuch bei Tatjana Kastein, 25, und Ondřej Záruba, 24, im Zirkus Flic Flac.

Draußen: Ein Zirkuszelt, schwarz-gelb, aufgebaut nahe der Hertzallee, fünf Gehminuten entfernt vom Bahnhof Zoo in Berlin. Auf dem Weg dorthin: die Bahnhofsmission, ein umgekipptes Bier, schlafende Obdachlose. Ein zwei Meter hoher Metallzaun grenzt das Zirkusgelände ab, dahinter reihen sich knapp 40 Wohnwägen sternförmig um das Zirkuszelt. An diesem Abend, kurz vor Weihnachten, werden im Zelt 1.400 Zuschauer sitzen und die Show sehen. Noch aber ist es ruhig, fast jedenfalls. Aus den Vorzelten dringen Stimmen, Russisch, Spanisch, manchmal Deutsch. In der Luft hängen Zigarettenqualm und der Geruch von Motoröl. Unter einer Plastikplane ragt ein Tannenbaum mit einer goldenen Girlande hervor. Ansonsten: ein Briefkasten, ein Blumenkasten mit Gestrüpp, eine Waschmaschine. Drinnen und draußen gehen auf dem Zirkusvorplatz ineinander über.

Drinnen: Der größte aller Wohnwägen, fast 15 Meter lang, gleicht eher einem Ufo als einem Zirkuswagen, weil er an allen Seiten ausgebeult ist. Es riecht nach Red Rasperry, einer Duftkerze. Sie ist rot wie der Adventskranz und rot wie der Teppichboden. Rot flackert auch das Licht im künstlichen Ofen, und rothaarig sitzt Tatjana Kastein – ihr gehört das Ufo – auf dem ledernen Sofa. Ihr Zuhause erinnert an eine Zweizimmerwohnung: eine Wohnzimmergarnitur (nicht rot, sondern kastanienbraun), zwei Bäder, Kuscheltiere, Flachbildfernseher, die Kochzeile aus weißem Marmor. Am Kühlschrank pappen Familienfotos, sie zeigen Tatjana im champagnerfarbenen Abendkleid. Neben ihr ein Mann: Ondřej Záruba. Seit zwei Jahren sind die beiden zusammen. Fast gleichzeitig holte der Vater ihr den Wohnwagen aus den USA. Nun stehe er überall dort, wo Flic Flac gastiert, erklärt Tatjana, während sie Teewasser in Schäfchentassen schüttet.

Sie: Tatjana Kastein ist Artistin und Zirkuserbin. Die jüngere von zwei Schwestern wurde in München geboren, aufgewachsen ist sie in der Manege des Familienunternehmens. Schon ihre Eltern lernten sich zwischen Hochseil und Trapez kennen. Als Fünfjährige bekam Tatjana Privatunterricht, sie spezialisierte sich auf den Handstand. Um den zu perfektionieren, trainierte sie als Kind täglich. So etwas prägt. Der private Schulunterricht? Nebensache. „Ich kannte es nie anders“, sagt sie, das Kinn nach oben gereckt wie eine Tänzerin. Auf ihrem Handgelenk sind „Faith“ (Glauben) und eine Feder eintätowiert. „Weil ich die Freiheit liebe“, sagt sie.

Er: Ondřej Záruba ist auch bunt tätowiert, ein 3-Zentimeter-Kinnbart prägt sein Gesicht. Der Artist stammt aus dem Osten Tschechiens, Mähren, genauer aus Valašské Meziříčí. Den Namen schreibt er auf, „weil das sowieso keiner aussprechen kann“. Ondřej wuchs mit der Motorcrossmaschine auf und nahm früh an Wettbewerben teil, der Traum: Profirennfahrer. Ein Traum, den er von seinem Vater hatte, ebenfalls ein Motocrossfan. Ondřej hat auch eine bürgerliche Seite. Eher alibimäßig studierte er Business Economy und schaffte trotz etlicher Fehlstunden seinen Bachelor-Abschluss. „Den wollte ich und dann schnell weg“, sagt Ondřej. Er ging endgültig zum Zirkus. Sein Vater, mittlerweile getrennt von seiner Mutter, sei stolz darauf, sagt er. Ondrèj schafft inzwischen einen 21-Meter-Sprung mit seinem Motorrad. Der Weg dorthin war schmerzhaft: Acht Knochenbrüche, zweimal nahm die Wirbelsäule Schaden. „Wenn man sich verletzt, dann richtig“, sagt er. Tatjana sitzt meist in der Manege, wenn Ondřej auftritt. „Ich habe keine Angst um ihn“, sagt sie. In den Armen hält Tatjana die sieben Monate alte Tochter.

Die Familie: Zwei Hunde (Nala und Happy) gehören zur Familie und natürlich Fiona, Tatjanas und Ondřejs gemeinsames Töchterchen. Fiona steckt in weißen Plüschschuhen und trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Flic Flac“. Mit großen dunklen Augen blickt sie sich um. In vier oder fünf Jahren darf sich Fiona entscheiden, welchen Weg sie gehen will: „Motorcross wie der Vater oder Artistik wie die Mutter stehen zur Auswahl“, sagt Tatjana und lacht. Zur weiteren Familie zählen irgendwie auch die 50 ZirkusartistInnen aus 14 Nationen. Denn über Freundschaften sagt Tatjana: „Außerhalb des Zirkuslebens kenne ich keine anderen Leute.“ Weil die Belegschaft alle zwei Jahre wechselt, muss Tatjana oft Abschied nehmen.

Alltag: Zwei Monate nachdem Fiona zur Welt kam, verkaufte Tatjana schon wieder Zirkuskarten am Ticketschalter in einem der Bürowägen. Viel Freizeit bleibt da nicht. Sechs Tage die Woche gibt es je zwei Aufführungen. An Weihnachten gibt es eine Extrashow nach der anderen. Nur wenn der Zirkus in die nächste Stadt weiterzieht, haben die ArtistInnen drei Tage frei. Und dann? Tatjana sagt: „Weihnachtsmarkt“, Ondřej antwortet: „Fitnessstudio“.

Gesundheit: Ihr Körper ist für Tatjana „das Allerwichtigste“, er muss immer funktionieren („auch bei 40 Grad Fieber“). Wenn sie krank ist, nimmt sie Medikamente und beißt die Zähne zusammen. „Die Zuschauer zahlen ja Geld für die Vorstellung“, sagt sie. Ausfälle, selbst krankheitsbedingte, dürfen nicht sein. „Kam auch noch nie vor“, sagt Tatjana. Sie schätzt, dass ihr Körper ihren harten Job mitmacht, bis sie 45 Jahre alt ist. Danach, das ist der Plan, wird sie den Zirkus managen, so wie heute ihre Eltern.

Die neue Ära: „Ich bin die neue Generation“, sagt Tatjana. Mit dem Kind auf dem Arm geht sie über Rohre und Kabel in das große Zelt, wo gerade eine Gruppe südamerikanischer Artisten probt. Zukünftig gehört ihrer Schwester und ihr das Zelt, lenken sie den Unterhaltungskonzern; einen, der mit Zirkusromantik oder Holzwagenkolonnen wenig zu tun hat. Noch fungiert Tatjana als Juniorchefin, aus dieser Position heraus will sie den Zirkus weiter modernisieren. Eine Alternative ist für sie und ihre Schwester so undenkbar wie ein fester Wohnsitz. „Es war immer klar, dass wir das machen wollen.“

Heimat: Tatjana hat noch nie in ihrem Leben fest an einem Ort gewohnt. „Ich bin in ganz Deutschland zu Hause“, sagt sie, am liebsten aber in Saarbrücken, „weil es da immer gut läuft.“ In 40 Städte hat der Zirkus sie schon geführt. Heimat für Tatjana heißt: „Dort, wo das Zelt steht“.

Wann sind Sie glücklich? „Wenn Fiona lacht“, sagt Tatjana. Fiona gluckert demonstrativ, sie lacht oft. „Wenn ich gesund bin“, ergänzt Ondřej und – mit Blick auf Tatjana und die gemeinsame Tochter – „wenn meine Familie gesund ist“.

Und wie findet sie Merkel? „Ich mag sie“, sagt Tatjana kichernd. „Mehr will ich dazu nicht sagen“, schiebt sie nach und sagt dann doch mehr: „Ich mag ihre Klamotten.“

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