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Hausbesuch Sie leben dort, wo andere Urlaub machen: in Brüsenhagen bei Gumtow. Wo das ist? In der Prignitz. Wo die ist? Aus Sicht von Städtern: in Jottwede. Wer da hin kommt? Weltenbummler, die das Einfache suchenUnd nachts hat er von Wölfen geträumt

Leben wie in Bullerbü. Die fünfköpfige Familie Obst in ihrem kinderfreundlichen Wohnzimmer

von Susanne Messmer (Text) und Amélie Losier (Fotos)

Im Landkreis Prignitz in Brandenburg, nordwestlich von Berlin, genauer im Dorf Brüsenhagen bei Gumtow: zu Besuch bei Julia und Rouven Obst (beide 39) und ihren Kindern Alma (8), Johann (6) und Carl (2)

Draußen: Je mehr man sich dem Dorf nähert, desto stärker der Gedanke, dass die Welt doch eine Scheibe sein könnte und man demnächst ins All kippt. Die Straßen werden enger, die Autos weniger, die Luft riecht erdiger, süßer. Dazu dicker Nebel, Raureif auf den Wiesen, den kahlen Bäumen. In Brüsenhagen ein Kirchturm ohne Schiff und kein Mensch auf der Straße. Das schöne weiße Haus schließlich, Feldsteinsockel und weiße Holzsprossenfenster, fünfzig Meter von der Straße zurückgesetzt, Scheunen links und rechts: Hufeisen. Davor die große Kastanie, eine Hofkatze.

Dahinter:Der alte Schweinestall, ein Hühnerhaus, zehn Schafe, zwei Shetlandponys. Vor allem aber der Garten von Julia Obst, ein Mischkonzept mit Beeren, Stauden, Gräsern, Gemüse zwischendurch. Alles wirkt selbst noch im Winter lebendig. Wohlklingende Pflanzennamen werden ausgesprochen: Waldmeister, Ananasminze, Kriechender Günsel, rotbunter Mangold, Ysop und Eberraute. Viele Bäume, hauptsächlich Apfelbäume. „30 Stück, die haben alle wir gepflanzt“, sagt Rouven Obst. Und sie ergänzt: „Dieses Jahr haben sie zum ersten Mal getragen.“ Er, grinsend: „Wir wachsen mit unseren Aufgaben.“

Drinnen: Seit 2007 sanieren sich die Obsts durch dieses Haus. Es geht durch einen Windfang in einen Flur mit Dielen, die einen halben Meter breit sind. Filzpantoffeln für alle. Die Küche ist der wärmste Raum im Haus, vorn raus der Blick auf den weiten Hof, hinten raus der Blick ins noch rohe Wohnzimmer. Der große Holztisch ist Mittelpunkt des Familienlebens. Die Kürbissuppe dampft schon. „Ich bin gut in Kürbissuppe“, sagt Rouven Obst. „Ich kann keinen Kürbis mehr sehen“, sagt Alma, die Tochter. Der Tisch wird gedeckt, ein Großteil des Gesprächs wird beim Essen stattfinden.

Liebe: Kennengelernt haben sich Julia und Rouven Obst bei einem Kongress der Zeitschrift Graswurzelrevolution im Jahr 1997, in Köln. Thema: Anarchie. Zum Glück konnten sie mit dem Wochenendticket zusammen nach Hause fahren, denn sie studierte bereits an der Berliner Humboldt-Universität Gartenbauwissenschaften, und er nahm zwei Wochen später sein Studium der Literatur und Philosophie auf. Auch an der Humboldt-Uni.

Landliebe: Er ist auf dem Land in Schleswig-Holstein aufgewachsen und wollte immer zurück aufs Land. Sie ist in Berlin aufgewachsen, und spätestens seit dem Studium wollte auch sie raus aufs Land. Schon bevor sie ein Paar wurden, waren sie sich einig: „Wenn Kinder, dann so Kinder: wie Generation ­Bullerbü.“

Der Stall wird auch noch ausgebaut

Arbeiten und Leben an einem Ort: Seit Almas und Johanns Einschulung fahren sie die Kinder täglich mit dem Auto in die 30 Minuten entfernte Schule, eine freie Schule. Aber sehr selten nur noch machen sie sich auf nach Berlin. Stattdessen der monatliche Gottesdienst, Kirchenchor und Engagement im Förderverein der Kirche, die den Kirchturm sanieren will. ­Julia Obst: „Die Leute hier haben jedes neue von unseren Kindern sehr herzlich willkommen geheißen.“

Einsamkeit:Nein. Einsam? Nein. Denn Freunde und Verwandte kommen oft raus. Und: Inzwischen ist auch die zweite Ferienwohnung vier Monate im Jahr ausgebucht. Julia Obst: „Viele Stammgäste, manche auch, die wir duzen.“ Oft spielen die eigenen Kinder mit denen der Gäste. Rouven Obst: „Manchmal steht die Welt hier im Hof und bringt uns die Geschichten mit, die wir nicht mehr erleben“. Einmal waren sogar Weltenbummler bei ihnen, die bereits seit 15 Jahren unterwegs sind. Familie Zapp aus Argentinien, mit einem Oldtimer aus dem Jahr 1928 und vier Kindern, die unterwegs auf die Welt kamen.

Bücher: Rouven Obst ist seit 14 Jahren freiberuflicher Lektor für Autoren, nicht für Verlage, wie er betont. Soll heißen: Das Geschäft läuft ungefähr seit fünf Jahren richtig gut, weil immer mehr Autoren ihre Bücher selbst verlegen. Zum Glück keine Werbung, ausschließlich Belle­tristik, auch Jugendbücher, darunter die Bücher „Federherz“ und „Federwelt“ von Elisabeth Denis, die bei Oetinger34 erschienen sind. Ab und zu Geschäftsreisen zum Kompagnon nach Berlin-Kreuzberg. Seit dem Hauskauf ist er aber auch Hauptbeauftragter für den Bau. „Das macht Spaß, hört nie auf.“

Blumen: Julia Obst hat in Berlin einen Permakulturgarten mit aufgebaut, in der Uckermark an einem Gärtnerhof gearbeitet, dann in Sophiendorf auf einem Hof mit Milchschafen und Heidelbeeren. In Brüsenhagen fing sie mit Kräutern und Stauden an, die sie selbst vermehrt. Außerdem bindet sie Kränze, für die sie gezielt Strohblumen anbaut. Alle Produkte verkauft sie auf Märkten oder verschickt sie. Im Moment aber, auchwegen des dritten Kindn, konzen­triert sie sich mehr auf die Fe­rienwohnungen, die vor allem sie organisiert. Die Gäste können sich im Garten selbst versorgen, Blumen schneiden. Neuerdings gibt es zudem einen Veranstaltungsraum im ehemaligen Pferdestall.

Pläne: Nächstes Jahr muss das Dach gemacht werden. Langfristig soll alles „so weiterwachsen und gedeihen wie bisher“, sagt Rouven Obst. „Für uns und unsere Kinder“, ergänzt seine Frau. Tatsächlich hoffen beide, dass eins von ihnen bleibt. „Oder zurückkommt.“ Außerdem: den Stall barrierefrei ausbauen. Vielleicht für Gäste mit Fahrrädern. Vielleicht für später, um selbst dort zu wohnen, „fürs Kleinerwerden“, wenn die Kinder groß sind, sagt sie

Beim Rausblicken ein Gefühl des Einklangs von Mensch und Natur

Gegenwart: Die Winterruhe genießen. Am Kamin sitzen. Viel Musik machen. Vorlesen. Er: „Heute Nacht habe ich vom Wolf geträumt.“ Tatsächlich wurde in der Nähe schon ein Wolf gesichtet, im Wald. Seitdem sperren die Obsts die Tiere über Nacht ein.

Glück: „Da!“ (Carl, auf den Löffel zeigend) „Wenn ich in der Schule meine Freunde treffe.“ (Alma) „Wenn ich in der Schule spiele.“ (Johann) „Im Sommer im Garten mit der Familie Pizza essen.“ (Julia) „Draußen mit den Kindern arbeiten.“ (Rouven).

Und dann, ach ja, die letzte Frage, die Merkel-Frage: „Wer ist Frau Merkel?“, stellt Alma die Gegenfrage. Großes Gelächter. Rouven Obst: „Diese Frage würden wir tatsächlich lieber ­auslassen.“

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