piwik no script img

Hausbesuch Dietmar Kirves ist Künstler. Seit 1979 lebt er in Berlin-Kreuzberg. Weil er bei Konflikten vermittelt und Leuten bei Problemen mit Behörden hilft, nennen ihn manche „Bürgermeister“. Alt werden will er nicht„Ich habe schon genug gesehen“

Simone Schmollack (Text) und Miguel Lopes (Fotos)

Der „Zickenplatz“ in Berlin. Zwei kleine bronzene Statuen erinnern an die Zeit, als Bürger hier ihre Ziegen weideten. Hohenstaufenplatz heisst er heute offiziell, Viele Familien mit Kindern sind trotz starken Regens unterwegs. Türkisch ist die meist gesprochene Sprache. In einer kleinen Seitenstraße wohnt Dietmar Kirves, 74, seit 1979.

Draußen: Gründerzeitbauten, manche schick saniert, andere in trübem Grau, dafür mit Graffiti übersät. Buntes Haus, Hinterhof, 4. Stock, letzte Tür.

Drin: Eine seit 40 Jahren unsanierte Wohnung, was erfrischend wirkt: vergilbte Wände, durchgetretene Dielen, alte Fenster und eine ebenso alte Heizung. Kein Bad, nur eine Toi­lette, aber innen. Im langen Flur Bücherregale bis unter die Decke, auf Hängeböden alte Radios. Drei Zimmer. Im Arbeitszimmer zwei Schreibtische, auf dem einen Malzeug (“analoge Utensilien“), auf dem anderen ein Computer. Viele Regale mit sauber beschrifteten Ordnern: „Menschen“, „Leben“, „Lurie“, „NO!art“. An der einzigen freien Wand und an der Decke kleine gelbe Kärtchen. Darauf Wortbildungen, die in Medien favorisiert werden. Er nennt sie Mindshots. Dabei steht ein Wort oben und das andere darunter: Wunder Waffe, Sozial Porno, System Relevant, Ware Wert, Schatten Soldaten, Multipler Orgasmus.

Was denkt er? „Hausbesuch? Von der taz? Gewöhnlich bekommt man Hausbesuch vom Arzt, vom Stromableser und von der Hausverwaltung.“

Was macht er? Er ist Künstler: fotografiert, malt, filmt, schreibt, sammelt. Zum Beispiel kleine Flaschen mit Wasser aus verschiedenen Gegenden der Welt. Das Wasser verändert sich im Laufe der Jahrzehnte, es sammeln sich Ablagerungen an. Manchmal schüttelt er die Flaschen und hält sie gegen das Fenster, beobachtet das neue Leben darin. Früher, als „ich jung war“, war er Kunst- und Religionslehrer, Betriebsrat, Toilettenmann auf Friedhöfen, Entrümpler, Fahrer, Korrektor bei der sozialistischen Zeitung Die Wahrheit und bei einem Wissenschaftsverlag. Alles Brotjobs, Vollzeit, weil „man als Künstler kein Geld verdient. Es sei denn, man passt sich dem elitären Mainstream an“.

Frühe Jahre: 1941 in Fürstenwalde im Osten geboren, wurde Kriegswaise. Kam als Flüchtling nach Westfalen und wuchs dort mit seinen drei Schwestern auf. Volksschule, Gymnasium, von 1962 bis 1968 Kunststudium in Kassel. Zog 1968 nach Düsseldorf und arbeitete mit Joseph Beuys zusammen. Gründete 1970 die Galerie mediacon­tact, press & agency, ein künstlerisches Forschungsprojekt zur gesellschaftlichen Relevanz von Kunst und Medien. 1974 hatte er von Düsseldorf „die Schnauze voll“ und ging nach Berlin: „Um eine Familie zu gründen.“

Außenseiterkunst: „Gibt es eigentlich nicht.“ Seine Beschäftigung damit markierte den Ausstieg aus der Kunstszene. 1978 lernte er den ehemaligen KZ-Häftling und Künstler Boris Lurie und die Bewegung der NO!art kennen. Luries Collagen von Pin-ups und Fotos aus den Lagern wurden vom Kunstbetrieb abgelehnt. Mit Lurie gab Kirves 1988 die erste NO!art-Anthologie heraus.

Soziales Engagement: Jeden Tag ist er im Kiez unterwegs. Er hilft Menschen, die gesundheitliche und zwischenmenschliche Probleme haben: MigrantInnen, Junkies, AlkoholikerInnen, Arme. Er füllt Formulare aus, erklärt, wie man Behördenanträge stellt, ist Beichtvater. Manche nennen ihn „Bürgermeister“.

Alltag: Mittags um zwölf steht er auf. Es folgen „Selbstreinigung“ und „Nahrungsaufnahme“ (eine Stunde) und anschließend „meine kreative Phase“ (zwei Stunden). In dieser Zeit kommuniziert er per E-Mail mit der Welt und denkt sich neue Sachen aus. Am Nachmittag geht er zwei Stunden spazieren. „Das ist mein Sport.“ Von sechs Uhr abends bis nachts vier Uhr arbeitet er an seinen mehr als 30 Websites, an Buchprojekten und Fotodokumentationen. „Gestern habe ich aus Versehen 400 Bilder gelöscht, muss ich jetzt noch mal machen.“ Sein Arzt sagt, er werde 95. Das will er aber nicht: „Ich habe schon genug gesehen.“

Tod: „Kann jeden Tag kommen, ich habe keine Angst davor. Dann muss man nicht mehr Zähne putzen und keine Miete zahlen. In allen Läden kann man umsonst einkaufen.“

Erste Liebe: Eine Beuys-Schülerin, zwei Söhne. Er liebte alle drei. Aber sein Fulltimejob, die Kunst und seine Familie „überlagerten sich“. Als er an einem Spätsommerabend 1979 nach Hause kam, stand der Inhalt seines Zimmers im Flur – seine Frau hatte ihn rausgeschmissen. Seitdem lebt er in der Wohnung, die vorher sein Atelier war. Seine Frau wollte dreimal zurück zu ihm. „Hassliebe“, vermutet er. Aber er wollte nicht mehr: „Ich geh auch nicht zweimal in dieselbe Kneipe.“

Zweite Liebe: Seit 30 Jahren ist er mit seiner Freundin zusammen. Sie wohnt in Charlottenburg und besucht ihn ein, zwei Mal in der Woche. „Über das Smartphone haben wir uns unter Kontrolle. Wenn man tot ist und keiner weiß davon, liegt man als Leiche stinkend in der Wohnung. Ist doch nicht schön.“

Sein Gästebuch: Alle Besucher tragen sich ins Gästebuch ein. Das Buch hat er nach der Wende aus dem Müll gezogen. „Nach dem Mauerfall bin ich viel in Ostberliner Mülltonnen rumgekrochen, um zu sammeln, was die Leute wegschmeißen.“ Auch ein Kunstprojekt. Es füllt drei Regale.

Wie finden Sie Merkel? „Ich bin froh, dass endlich eine Frau an der Spitze ist. Die nächste darf aber auf keinen Fall Ursula von der Leyen sein. Die ist zu dünn und zu hart und guckt sich Gewehre an, obwohl die schon kaputt sind.“

Wann sind Sie glücklich? „Immer. Jeder Tag ist ein Geschenk.“

Sie möchten auch besucht werden? Mailen Sie an haus­besuch@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen