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Hauptstadt Ber(li)n?

■ Tour d'Europe — andere über uns und über sich

Bonn oder Berlin- interessiert das eigentlich unsere europäischen Nachbarn? In der Tschechoslowakei antworteten einige Jugendliche mit einer Gegenfrage: „Habt ihr wirklich keine größeren Probleme?“ Von der historischen Rolle Berlins als alter Reichhauptstadt wissen sie wenig. Sie kennen „Ost-Berlin“ von früheren Besuchen. Den Westen Berlins kannten sie, wenn überhaupt, nur durch einen verstohlenen Blick über die Mauer. Viele jüngere Prager sind sauer auf die ehemaligen DDR-Bürger, die sich heute so großspurig aufführen wie früher die Wessis.

In Frankreich hielten viele Berlin auch vor Jahren schon für die deutsche Hauptstadt. Unter Bonn können sich auch heute wenige etwas vorstellen. Aus ihrer eigenen Erfahrung ist eine Hauptstadt selbstverständlich eine Metropole mit geschichtlicher Tradition. Auch in Moskau empfinden viele, daß Berlin vor dem wirtschaftlichen wie auch dem kulturellen Hintergrund Hauptstadt werden sollte. Den Italienern erscheint die Berlin-Diskussion, sofern sie sich überhaupt für die Debatte interessieren, ziemlich unverständlich. Den Römern einerseits gilt Berlin als „ganz natürliche Hauptstadt“, weil historisch begründet, wie sie das auch für sich selbst reklamieren. Die Mailänder hingegen haben zwar etwas gegen solche „Natürlichkeit“, weil sie selbst Rom den Hauptstadttitel streitig machen wollen. Doch auch für sie ist Bonn keine Alternative. Sie plädieren für Frankfurt als Handels- und Finanzzentrum.

Die Schweizer unterhalten sich zwar — so scheint es — nicht über Berlin und Bonn, aber auch sie sind vom Hauptstadtzirkus erfaßt. Der sozialdemokratische Abgeordnete Jean Ziegler hat dem Schweizer Parlament vorgeschlagen, den Hauptstadtstatus von Bern zu streichen und eine regelmäßig wechselnde Hauptstadt einzuführen. Bereits vor 1848 sei ein solches Rotationsprinzip in der Schweiz üblich gewesen. Eine ernsthafte Gefährdung der politischen Arbeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist aufgrund der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Belgien um die künftige EG-Hauptstadt zu befürchten. Während Belgiens Ministerpräsident Martens den Einsatz für Brüssel als „lebenswichtigen Kampf“ deklariert hat, hat Frankreich angekündigt, alle anderen Standorte zu blockieren, wenn es nicht Straßburg als Sitz für das Europaparlament bekommt. taz

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