■ Privilegienpolitik, Besitzstandswahrungund Despotie des Marktes: Hartzer Käse
betr.: „Die Richtung stimmt“, taz vom 2. 7. 02, „Garantiert sozial ungerecht“, „Gezähmt durch den zarten Auftrieb für Rot-Grün“, taz vom 5. 7. 02
Hartz’ Vorschläge o.k.? Auch dass sich junge Singles überall hin verschicken lassen sollen, wo es für die Unternehmer lukrativ ist? Als ob sie nicht auch Liebesbeziehungen hätten, Freundeskreise, die sie andernfalls desto nötiger brauchen, Wahlnichten und -neffen, die sie mitbetreuen! Haben nicht häufig gerade sie durch Engagement in diversen sozialen, kulturellen, politischen Initiativen Teil an dem immerwährenden, jawohl, anarchistischen Projekt, möglichst viele gesellschaftliche Belange durch freie Assoziation zu regeln? Wo bleiben Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, wenn solche Netzwerke jederzeit durch das Arbeitsamt zerrissen werden können? […]
Es sind ja jetzt schon zu viele restlos davon in Anspruch genommen, sich in Einzelkämpfen durchzuwursteln. Warum sonst gibt es keine rege Debatte darüber, welche gesellschaftlichen Werte unbedingt vor der Despotie des Marktes geschützt werden müssen? Von einer linken Zeitung erwarte ich, dass sie eine solche kräftig anschubst! Wenn mir dagegen der stinkende Hartzer Käse schmackhaft gemacht werden soll, kommt mir das Kotzen!
ANNE FRÖHLICH, Tübingen
Auch wenn schon so mancher Vorstoß zu einer erfolgreichen Jobvermittlung im Bürokratiedschungel des Arbeitsamtes steckengeblieben sein mag, hier liegt nicht das Kernproblem. Um die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, bedarf es einer grundsätzlichen Umstrukturierung des Arbeitsmarktes, in deren Verlauf auch die Verteilung von Wohlstand ganz neu diskutiert werden muss. Es sei denn, das Ziel ist ein Heer von Billigarbeitskräften in direkter Nachbarschaft zur Armutsgrenze.
Dann stimmt die Richtung natürlich. Dann sind die zahlreichen Zwangsmaßnahmen, mit denen die Arbeitslosen heute schon schikaniert werden, goldrichtig. Machen wir die Menschen fit für noch größere Zumutungen in der Zukunft! […].
ANDREAS SCHIEL, Bielefeld
Das Hartz-Konzept zeigt nicht, wie realiter neue Arbeitsplätze geschaffen noch wie Arbeitgeber veranlasst werden können, bestehende Arbeitsplätze zu erhalten. Das Konzept folgt offenbar vorrangig den üblichen Zielen: Mittel auf Kosten von Arbeitslosen zu sparen, die Statistik zu schönen und Leiharbeit, Billiglohn und abhängige „Selbstständigkeit“ einzuführen, natürlich nur für Erwerbslose. Der hernach größere Mangel soll offenbar zukünftig „gleichmäßig“ verteilt werden. Da ergeben sich wie nebenher neue Möglichkeiten, Steuergeschenke zu machen, zum Beispiel an den Mittelstand, wie von deren Vertretern vielfach gefordert.
Angezeigt wäre hingegen etwas ganz anderes: nämlich teilen zu lernen (Arbeitsplatz, Handlungsmöglichkeiten, Einkommen, Selbstbestätigungsmöglichkeiten, Rentenansprüche, Vermögen, Aktiengewinne, Erbschaften etc.). Teilen kann aber nur der, der zu viel hat, mit dem, der zu wenig hat, also zum Beispiel Hartz, Schröder und Hundt mit zehn bis 20 Erwerbslosen, je nach ihrem persönlichen Monatseinkommen, und nicht umgekehrt. Doch auf diesen Mut wartet mensch bisher vergeblich. Statt dessen Privilegienpolitik und Besitzstandswahrung, wie gehabt. […]
GLORIA DOHM, Göttingen
Beim Thema Arbeitslosigkeit bzw. „Bezahlung“ von Arbeitslosen die Moralkeule zu schwingen, indem die drohende Einteilung von Arbeitslosen in Gute und Schlechte – die Errichtung einer Zweiklassengesellschaft – düster am Horizont heraufbeschworen wird, geht am Kern des Problems doch vorbei und ist reine Polemik. Eine Einteilung besteht schon mit der heutigen Regelung einer Unterteilung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. […]
Der Kern des Problems liegt doch eher darin, dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit höhere Kosten für Posten wie Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe entstehen. Der Staat kann, um diese Kosten zu decken, entweder an diesen Kosten sparen – wie vorgeschlagen – oder sie an die weitergeben, die ein Gemeinwesen finanzieren: die Bürger – genauer an selbige, die Arbeit haben. Die Bereitschaft diese höheren Kosten zu tragen, steigt in der Realität leider nicht proportional zu der Arbeitslosenquote oder der Gefahr, den eigenen Arbeitsplatz einzubüßen.
Letztendlich ist ein hoher Leistungsstand – wie er im Kommentar gefordert wird – bei vielen Arbeitslosen kaum zu realisieren. Dass Konzepte, die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit globalisieren, auch von Edmund Stoiber nicht geboten werden, wäre ein wunder Punkt gewesen. So zeigt der Kommentar jedoch nur die aus der heutigen Situation gezogenen Schlussfolgerungen Stoibers auf, die auch die heutige Regierung schon gezogen hat.
THOMAS PETZOLD, Berlin
Inhaltlich scheint Rot-Grün mit P. Hartz endgültig da angelangt zu sein, wo die Vorgängerregierungen aufgehört haben: Wenn sich die Arbeitslosigkeit unter den Bedingungen einer neoliberalen Angebotspolitik nicht wirksam bekämpfen lässt, dann bekämpft man statt dessen die Arbeitslosen, verkürzt die Bezugsdauer, reduziert die Leistungen, verschärft die Zumutbarkeitsregelungen hinsichtlich Qualifikation und Mobilität und erweitert damit die Möglichkeiten der Arbeitsverwaltung, Arbeitssuchende finanziell zu drangsalieren. Originalton Hartz: „Anreize zum Verbleib in der Arbeitslosigkeit und zum weiteren Bezug von Entgeltersatzleistungen sind abzubauen.“
Hätte sich dieser bahnbrechende Gedanke doch nur schon durchgesetzt! Die faulen Holzmänner, Babcocker (und wie sie alle heißen) wären gar nicht erst auf die Idee gekommen, ihren Job aufzugeben, um es sich in der sozialen Hängematte gut gehen zu lassen. […] HERMANN TAUBENBERGER, Gartow
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