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Harald Welzer über die Klimakrise Verbrauchte Ziele

Der Klimawandel wird in großen Teilen ungebremst erfolgen. Statt uns auf unerreichbare 1,5- oder 2-Grad-Ziele zu fixieren, sollten wir schleunigst unsere Städte, Gemeinden und Infrastrukturen katastrophenresilient machen.

Der Mensch hat es in der Hand, durch zarten Umgang Leben zu erhalten Foto: Max Slobboda

taz FUTURZWEI | »Wissenschaftler:innen und Expert:innen sehen in ihrer Bestandsaufnahme auf dem 13. ExtremWetterKongress die Chance als verpasst an, mit relativ wenig Aufwand das Klimasystem zu stabilisieren. Der Klimawandel wird aus Sicht der Konferenzteilnehmer:innen nun in großen Teilen ungebremst erfolgen, womit nicht mehr abwendbare massive Veränderungen auf unserem Planeten zu erwarten sind.« So heißt es in der Zusammenfassung des Extremwetterkongresses 2023, auf dem auch mitgeteilt wurde, dass man das Erreichen des berühmten 1,5-Grad-Zieles, also das Einbremsen der Erderhitzung auf diesen Steigerungswert, vergessen könne.

Endlich sagt das mal jemand, dachte ich. Denn wir sind ja längst in einer Situation, in der wir große politische, materielle und psychische Energien in ein Ziel investieren, das längst unerreichbar geworden ist. Anstatt an den schnellen Umbau unserer Infrastrukturen, Städte und Gemeinden zu gehen, um sie robust und resilient zu machen. Zum Beispiel.

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Mit Reißen des 1,5-Grad-Zieles sind logisch auch die ganzen 2030-, 2045-, 2050-Ziele hinfällig, mit denen man die notwendige sozialökologische Transformation als Zukunftsvorhaben träumen konnte, vor dessen Kulisse man ungehemmt so weitermachen konnte wie zuvor. Nun schlafwandelt die gegenwärtig lebende Bewohnerschaft der Welt in einen Prozess hinein, der ihre Lebenssicherheit genauso wie ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten extrem beeinflussen wird – Klaus Wiegandt hat das in dem von ihm herausgegebenen Sammelband 3 Grad mehr noch einmal in aller Klarheit dargelegt.

Auch wenn es schwerfällt, sich von der angenehmen Illusion zu verabschieden, das Schlimmste sei immer noch zu vermeiden, steckt im Abschied von der Illusion vielleicht aber die Chance, die Frage der Erderhitzung und der Zerstörung der Biosphäre endlich wieder zu einer politischen zu machen. Denn der größte Erfolg der Nutznießer und Propagandisten des Wachstumskapitalismus war es ja, den Problemzusammenhang eines zunehmend zerstörten Klima- und Ökosystems auf eine Angelegenheit zu reduzieren, die man den Ingenieurinnen und Technikern und genialerweise auch den Ökonomen überlassen könne.

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taz FUTURZWEI N°27: Verbrauchte Ziele

Das 1,5 Grad-Ziel ist verloren, das 2 Grad-Ziel wohl auch. Braucht es einen Strategiewechsel und wie sieht der aus?

Wir machen Ernst IV, Schwerpunkt: Klimaziele

Mit Lea Bonasera, Kirsten Fehrs, Dana Giesecke, Jonathan Franzen, Anders Levermann, Wolf Lotter, Belit Onay, Katja Riemann – und natürlich Harald Welzer.

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Rückkehr zur Politik

Im Unterschied zu den Anfängen der Ökologiebewegung, die immer die Gesellschaft und ihre Wirtschaft im Blick hatte, war das halbe Jahrhundert seither eine Zeit der Entpolitisierung, die darin gipfelt, dass die radikalste soziale Bewegung in dieser Angelegenheit, die »Letzte Generation«, so bescheidene Ziele einfordert wie ein Tempolimit, ein 9-Euro-Ticket sowie einen Gesellschaftsrat und sich mit ihren diesbezüglichen Anträgen zuständigkeitshalber an den Bundeskanzler wendet. Da kommt einem gleich Lenins Aperçu in den Sinn, dass der deutsche Revolutionär erst eine Bahnsteigkarte löst, bevor er den Bahnhof besetzt.

Aber man kann die Entpolitisierung genauso an dem Aberglauben der absoluten Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch, am Green New Deal, an den Grünen als Partei der Ökotechnokratie wie überhaupt daran ablesen, dass zwar mehr »Wenden« ausgerufen werden, als man zählen kann, eine »Wirtschaftswende« aber bislang noch nicht gefordert wurde. Kein Wunder: denn die wäre als Umorganisation unseres gesellschaftlichen Stoffwechsels die unabhängige Variable, von der alle anderen Wenden erst abhingen. Und der Kampf darum wäre deshalb ein politischer, weil er gegen einstweilen noch übermächtige Interessen ginge. Aber davor biegt man lieber ab ins Illusionäre und kämpft gegen Moleküle.

»ÜBRIG BLEIBT DIE UMSTEUERUNG UNSERER RESSOURCEN AUF DIE AUFRECHTERHALTUNG VON HANDLUNGSSPIELRÄUMEN, DIE UNS GESTATTEN, EINE FREIHEITLICHE ORDNUNG ZU BEWAHREN.«

Harald Welzer

Der Sozialpsychologe Dietrich Dörner hat in einem wahrlich wichtigen und deshalb schnell vergessenen Werk über Die Logik des Misslingens schon vor dreißig Jahren dargelegt, dass die Bewältigung komplexer Situationen meist daran scheitert, dass man aus der scheinbar unübersehbaren Menge der Faktoren einen einzigen isoliert, dem man sich dann mit aller Anstrengung widmet. Dörner nennt das eine »Zentralreduktion«. Im Fall des Klimawandels haben die Naturwissenschaften das Treibhausgas Kohlendioxid ins Zentrum aller Bemühungen der Bewältigung gerückt – weil man meint, dieses Molekül langfristig aus dem wirtschaftlichen Metabolismus verbannen und seine Treibhauswirkung annullieren zu können. Alle Nebenfolgen und Fernwirkungen der Eliminierungsversuche – von Energiepreisen über Landschaftszerstörung und Einschränkungen des Naturschutzes bis zu Strukturwandlungen in der industriellen Landschaft – treten vor der Konzentration auf die eine Strategie zurück. Dabei passiert es, dass das anstehende Problem gelöst wird, aber nicht die Probleme, die durch die Lösung erst entstehen. Und dass sich alle Anstrengungen auf ein Ziel richten, das unter anderem deshalb nicht erreicht werden kann, weil neben den physikalischen Gegebenheiten eine Fülle partikularer Interessen im Spiel sind, die an einer Lösung gar nicht interessiert sind. Und die deshalb die Zentralreduktion auf das eine Molekül super finden.

Aktivierung der Eigenverantwortlichkeit

»Wenn wir«, schreibt Dörner, »statt uns das komplizierte Geflecht der Abhängigkeiten der Variablen eines Systems klarzumachen, eine Zentralreduktion durchführen, also eine Variable als zentral ansehen, so ist dies in zweierlei Weise ökonomisch: Zum einen spart man auf diese Weise eine ganze Menge weiterer Analysetätigkeit. […] Denn wenn eine Variable im Zentrum des gesamten Geschehens steht, dann braucht man auch nur über diese eine Variable Informationen. Der Rest ist dann ja sowieso abhängig von der Kernvariablen; um den Zustand der anderen Variablen braucht man sich nicht mehr zu kümmern. Auch die Planung von Maßnahmen kann man auf diese eine Zentralvariable beschränken. Die Zentralreduktion ist also an Ökonomie kaum zu übertreffen: Sie erlaubt den sparsamsten Umgang mit der kostbaren Ressource ›Nachdenken‹.«

taz FUTURZWEI als Zentralorgan für die Ressource Nachdenken ergänzt: Und erlaubt den sparsamsten Einsatz von Konflikten, indem das zerstörerische business as usual jenseits des Moleküls nicht infrage gestellt, sondern weiter forciert wird. Wozu das führt, kann man an den gerade auf den Markt kommenden E-Autos mit mehr als 1.000 PS sehen, die gewiss einen wichtigen Schritt im Kampf um ein lebensdienliches Klima darstellen. Oder an LNG-Terminals vor Rügen, die als deutlicher Sieg grünen Fortschritts im Kampf um die Natur zu werten sind. Das alles passiert eben, wenn man eine komplexe Situation nicht nur unterkomplex adressiert, sondern ihre Bewältigung sich so vorstellt, als habe sie mit Macht und Interessen gar nichts zu tun, weil ja alle – von Elon Musk bis Bayer, vom Emir bis zu Porsche – an einem intakten Klimasystem interessiert seien. Das ist, um es altmodisch zu formulieren, pure Ideologie, die dazu dient, das Notwendige so lange zu verhindern, wie das Fortsetzen des Falschen profitabel ist. Für einige.

Die „Wir machen Ernst“-Edition

Für alle, die nicht mehr mittragen, dass mit unseren planetarischen Lebensgrundlagen politisch so unernst umgegangen wird.

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Deshalb interessiert uns, in der vierten Folge von »Wir machen Ernst«, was übrigbleibt, wenn 1,5- oder 2-Grad-Ziele nicht mehr die Leitvorstellung unseres Denkens und Handelns bilden können, weil sie inzwischen illusionär geworden sind. Wir würden versuchsweise sagen: Übrig bleibt die Umsteuerung all unserer intellektuellen, wissenschaftlichen, politischen und materiellen Ressourcen auf die Aufrechterhaltung von Handlungsspielräumen, die uns auch unter böse wachsendem ökologischen und klimatologischen Stress gestatten, eine freiheitliche Ordnung zu bewahren. Und das ist nun etwas, was gar nicht den Ingenieurinnen und Technikern und schon gar nicht den berühmten »Profis« überlassen werden kann, denn diese Bewahrung findet nicht im Ausrufen kostenloser Ziele statt, sondern konkret, vor Ort, durch eigenes Engagement. Also nicht durch abstrakte Transformation, sondern durch konkrete Veränderung des Lebens. Mit anderen Worten: Der Abschied von der großen Illusion öffnet paradoxerweise endlich die Aktivierung der je eigenen Verantwortlichkeit. Weil man sie nicht mehr an große Deals und ein ominöses 2050 delegieren kann. Deshalb interessiert uns, was Jonathan Franzen über die Wichtigkeit der Initiativen vor Ort zu sagen hat genauso, wie Belit Onay als Oberbürgermeister eine Großstadt zukunftsfähig machen will. Und noch einiges mehr, was zu den Tatsachen zurückkehrt und sich in diesem Heft findet.

»Du hast keine Chance, also nutze sie« war mal unser handlungsleitendes Paradigma. Das gilt auch jetzt, wo die alten Ziele verbraucht sind: Die Zukunft ist schwierig, aber offen.

Dieser Beitrag ist im Dezember 2023 im Magazin taz FUTURZWEI N°27 erschienen.