Harald Welzer im Gespräch: Erwartungsunsicher in die Zukunft

Harald Welzer über den „Fundamental Change“, fehlende Solidarität und einen neuen Generationenkonflikt, hier und auf dem taz lab.

Szene bei einer Demo von Fridays for Future im Spätsommer 2020 Foto: Sebastian Wells/OSTKREUZ

Interview von MAREIKE BARMEYER

taz am Wochenende: Herr Welzer, wie hat Corona den Veränderungsprozess, in dem wir uns längst befinden, beeinflusst?

Harald Welzer: Radikal. Die Aufmerksamkeit hat sich auf das Virus gerichtet und weniger auf Probleme wie Klimawandel und Artensterben. Wir haben eine grundlegende Zunahme von digitalen Technologien und Anwendungen, inklusive verstärkten Online-Handel. Ebenso nehmen wir Auswirkungen auf die Arbeitswelt wahr. Jetzt sind wir wirklich im „Fundamental Change“, und das Interessante daran ist, vorsichtig formuliert, dass dieser Wandel ungesteuert ist und einfach passiert.

Dieser Kontrollverlust macht natürlich Angst …

Das kennen wir nicht. Wenn jemand aus Syrien auf der Flucht ist, weiß er auch nicht, was in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten passieren wird. Wir im saturierten Deutschland haben diese Erfahrung seit Jahrzehnten nicht gemacht, sondern sind immer erwartungssicher mit der Zukunft umgegangen.

Harald Welzer fotografiert von Jens Steingaesser

Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Gesellschaftsmagazins taz FUTURZWEI.

Der Fakt, dass alle betroffen sind, wenn auch nicht alle gleichermaßen, könnte das nicht einen gemeinsamen Nenner bilden?

Niemals. Die Sozialdemokraten kommen doch alle zwei Wochen um die Ecke mit Geschichten. Wie die von Heiko Maas, der meinte, es müsse Freiheitsräume für Geimpfte geben. Ausgerechnet die! Die Arbeiterbewegung hatte doch mal die Solidarität als eines ihrer Kernelemente. Es ist schwer genug, überhaupt noch eine Stimmung von Gemeinsamkeit in der gegenwärtigen Situation zu initiieren.

Wenn die Stressfaktoren von außen zu groß werden, beschäftigen sich die Volksparteien mit sich selber. Wir befinden uns in einem Wahljahr. Wie läuft ’s?

Die CDU und CSU sind in gewisser Weise Profiteure der Krise. Sie haben durch anfänglich gutes Krisenmanagement in den letzten Monaten mehr Zustimmung bekommen. Anders als die SPD haben sie es rechtzeitig geschafft, die Zerstörung nach innen zu vermeiden. Die SPD ist weiterhin munter auf diesem Trip. Bei der CDU stellt sich jetzt die Frage: Können sie sich inhaltlich modernisieren? Wie wird das mit Schwarz-Grün? Werden junge Frauen wie Diana Kinnert beginnen eine Rolle in der Partei zu spielen?

Die Coronapandemie macht Dinge sichtbar, sagen Sie, die vorher schon im Argen waren. Was ist denn das Offensichtlichste?

Dass die schwächsten Gruppen in der Gesellschaft am stärksten betroffen sind. Wir sehen das an den Armutsberichten und Zahlen. Wir sehen es auch an den ungerecht verteilten Möglichkeiten, mit dem Virus einigermaßen komfortabel zu leben: Mit einem großen Haus und Garten ist man erheblich besser dran, als wenn man in einer kleinen Wohnung sitzt. Alles, was in unserer Gesellschaft in sozialer Hinsicht schief eingerichtet ist, wird noch mal verschärft.

Was ist mit den Jugendlichen?

Eine wirklich benachteiligte Gruppe in der Coronakrise sind die Kids. Teenager, die Abiturjahrgänge, eigentlich alle, die einen Schulabschluss machen wollen. Die sind vielfach betroffen und für die interessiert sich keiner: Sie können nicht vernünftig zur Schule gehen, keine Auslandsreise machen und keine Ausbildung anfangen. Wie nachhaltig ist das? Wie kommt man zurück in den Tritt? Oder haben wir einen Generationenkonflikt? Fridays for Future liegt auch ein Generationenkonflikt zugrunde. Ich habe zu Anfang der Coronakrise gesagt: Jetzt sind die Jungen solidarisch mit den Alten. Im Umkehrschluss muss das heißen, wenn die Pandemie durch ist, dann müssen die Alten sich endlich ums Klima kümmern.

Ist das realistisch?

Im Gegenteil. Die Alten werden jetzt geimpft und die Jugendlichen können erneut ein Paar Monate von draußen zugucken. Verbunden mit den verschlechterten Berufsaussichten, mit der Sorge um Ausbildungsplätze und der Frage der Selbstfindung, die völlig unterbrochen ist, könnte daraus ein Generationenkonflikt mit Protest resultieren. Und vereint sich dieser dann mit Fridays For Future und Extinction Rebellion? Oder sind das so unterschiedliche Problemlagen, dass sich das versendet? Das finde ich eine interessante Frage.

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