Hang zum Eskapismus

Die Verfilmung von Michael Degens Erinnerungen an seine Kindheit im NS-Berlin („Nicht alle waren Mörder“, 20.15 Uhr, ARD) ist gefälliges Historytainment – und liegt damit voll im TV-Trend

Der Film ist wie Süßstoff aus dem Bioladen – mit gutem Gewissen zu genießen

VON RENÉ MARTENS

Wolfgang Schäuble war da, und auch Brigitte Zypries und Gregor Gysi und zeigten Flagge, als die ARD kürzlich in Berlin mal wieder einen Eventfilm präsentierte, auf den sie stolz wie Bolle ist: Unter dem Titel „Nicht alle waren Mörder“ hat der Regisseur Jo Baier den gleichnamigen Autobiografiebestseller des Schauspielers Michael Degen aus dem Jahre 1999 adaptiert, in dem dieser von seiner Kindheit im Nationalsozialismus erzählt. Die sehr große Koalition von Gästen aus dem Politikgewerbe war prädestiniert dafür, die Botschaft des gezeigten Films noch zu veredeln: Mehr Menschen als gedacht, wollen uns Baier und Degen sagen, leisteten während des Nationalsozialismus sogenannten Rettungswiderstand, indem sie Juden versteckten.

Baier erzählt, wie Anna Degen (Nadja Uhl) mit ihrem Sohn Michael 1943 in den Untergrund geht, um der Deportation ins KZ zu entgehen. Zwei Jahre lang müssen sie in Berlin ständig ihren Unterschlupf wechseln, immer wieder treffen sie auf neue Menschen, die ihnen helfen – wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen. Koproduziert hat den Film die Firma Teamworx, die auf solch bombastische wie sentimentalisierte Zeitgeschichtsinszenierung („Die Sturmflut“, „Die Luftbrücke“, „Dresden“) spezialisiert ist.

Wenigstens gibt es, anders als bei diesen drei Produktionen, in „Nicht alle waren Mörder“ keine Dreiecksgeschichte, und Ärzte spielen auch keine Rolle.

Aber spätestens wenn man die weibliche Hauptfigur verzweifelt und unter Lebensgefahr durch die Straßen irren sieht, fühlt man sich wie zu Hause, pardon, man erinnert sich an den Kampf der Heldin gegen tödliche Wellen in „Die Sturmflut“ (ebenfalls Uhl) beziehungsweise die Flucht vor alliierten Bomben in „Dresden“. In „Nicht alle waren Mörder“ kommt die Gefahr wieder aus der Luft, das Leben der Degens ist schließlich nicht nur durch die Nazis bedroht – so viel Ausgewogenheit muss sein.

So gerät „Nicht alle waren Mörder“ zu einem weiteren gepflegten Rührstück mit historischem Aroma. Baier hat einen Film über Familien für Familien inszeniert – natürlich in weltmarktkompatibler Hochglanzästhetik, damit das Werk den TV-Exportstandort Deutschland stärken kann. Dietrich Kuhlbrodt, der als Oberstaatsanwalt einst NS-Täter jagte und gerade das Buch „Deutsches Filmwunder: Nazis immer besser“ veröffentlicht hat, spottet im Fachblatt Schnitt über die dekorative Ästhetik des Films: „Models hätte man nicht exquisiter aufnehmen können.“

Neben Nadja Uhl wirken unter anderem Axel Prahl, Dagmar Manzel und Hannelore Elsner mit, allesamt Stars, die derart überbucht sind, dass sie einem nur noch ein wohlwollendes Gähnen entlocken können. Prahl etwa spielt einen Lokführer, der Juden ins KZ transportiert hat und nun seine Gewissensbisse durch Alkohol zu lindern versucht. „Im grandiosen Spiel Prahls werden Mord und Tod lebendig, lebendiger als in vielen Dokumentationen von den Leichenbergen in den Vernichtungslagern“, schreibt der Spiegel – abwegiger kann man es nicht formulieren.

Gegen „Nicht alle waren Mörder“ lässt sich vorbringen, dass das Wirken moralisch korrekter NS-Staatsbürger hier überhöht wird. Das entscheidende Problem liegt aber woanders. Der Film ist der zwischenzeitliche Höhepunkt einer unguten Entwicklung: History-Fiction sowie spielhandlungsreiche Geschichtsdokus stehen mittlerweile vor allem für einen Hang zum Eskapismus. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht: Für die nächsten Monate sind beispielsweise en masse aufwändige Filme über Schiffsschicksale angekündigt, ob nun aus dem Ersten Weltkrieg („Unter kaiserlicher Flagge“, das schon vor zwei Wochen bei Arte lief) oder der Wirtschaftswunderära („Der Untergang der Pamir“). Dazu laufen die Dreharbeiten für weitere NS-Vergangenheitsbewältigung zur See („Wilhelm Gustloff“, „Laconia“). Arte hat es angesichts des Bötchenbooms nötig, in der kommenden Woche die bereits bei RTL ausgestrahlte Doku „Expedition: Bismarck“ zu wiederholen, mit der der Spinner James Cameron („Hitler war der ultimative Rockstar seiner Zeit“) ein bekanntes NS-Kriegsschiff verherrlicht. Und montags gibt es in der ARD als Ergänzung nichtmaritime „Großen Schlachten“.

Der Trend zu immer mehr nur bedingt belangvollem Historytainment ist bemerkenswert, weil andererseits die gesellschaftlich relevanten Fragen dieses Jahrtausends – Schlagwort Unterschicht – in der hiesigen TV-Fiction-Produktion keine nennenswerte Rolle spielen. Gab es früher gute Gründe, über eine Geschichtsvergessenheit zu klagen, ist nun die Gegenwartsvergessenheit das große Übel.

Vor einigen Jahren hat sich vor allem für die Schmonzetten, die die ARD freitags feil bietet, der Begriff „Süßstoff-Offensive“ etabliert. Infolge des Zeitgeschichtsboom drängt sich nun eine Differenzierung auf: Die Freitagsfilme Supermarkt-Süßstoff. Bei edlen History-Fictionprodukte wie „Nicht alle waren Mörder“ kommt der Süßstoff dagegen aus dem Bioladen – mit gutem Gewissen zu genießen.

Ein Ende dieser Offensive ist nicht absehbar: 2007 erscheint der zweite Teil von Michael Degens Memoiren, und die ARD hat schon angekündigt, auch die Fortsetzung verfilmen zu wollen. Ein paar Vertreter von CDU, SPD und Linkspartei, die bei der Hauptstadtpremiere aufkreuzen, werden sich bestimmt finden lassen.