Hamburgs inklusive Handball-Liga: Ein Gewinn für alle
Freiwurf Hamburg ist die erste inklusive Handball-Liga in Deutschland. Der Leistungsvergleich wird durch ein eigens entwickeltes Regelwerk möglich.
Fokussieren – das ist bei Tobias eine besondere Sache. Einerseits braucht man ihm nur den eigenen Geburtstag zu sagen und er nennt den korrekten Wochentag des Datums. Andererseits hat er eine intellektuell-kognitive Beeinträchtigung. Komplexe Zusammenhänge zu verstehen, fällt ihm schwerer als anderen. Was sich zwischen den Torpfosten abspielt, ist wenig komplex, binär sogar. Der Ball geht rein oder nicht. Zweiteres soll häufiger der Fall sein, das wollen alle Torwarte. Da gibt es keinen Unterschied zwischen Tobias und Nationaltorhüter Johannes Bitter.
Dass da kein Unterschied gemacht wird, ist Martin Wild wichtig. Wild ist Vorstand und Gründer von Freiwurf Hamburg, einer inklusiven Handballliga in Deutschland. Sie ist die erste Liga, die offiziell vom Deutschen Handballbund (DHB) anerkannt ist.
„Wir möchten Inklusion leben. Wenn eine Person in die Halle kommt und Handball spielen will, soll diese auch als Handballer:in anerkannt werden“, antwortet Wild auf die Frage, warum eine Integration in den DHB zentral ist. Menschen mit und ohne Behinderungen, jung und alt, trainieren in den Mannschaften der Liga auf Augenhöhe. „Natürlich gewinnen und verlieren wir auch gemeinsam“, sagt Wild.
Inputorientierter Leistungsgedanke
Seit 2010 existiert Freiwurf Hamburg und neben der organisatorischen Leitung der Liga unterstützt Freiwurf andere Vereine, die inklusive Teams aufbauen wollen. Zurzeit sind es fünf Sportvereine mit acht Mannschaften, die in der Liga spielen. Allerdings gibt es keinen Meister. Ob das dem Prinzip einer Punktspielliga nicht widerspreche? „Das ist der Knackpunkt“, sagt Wild und fragt: Was ist eigentlich Leistung?“ Die Liga versuche, einen inputorientierten Leistungsgedanken zu verfolgen.
Alles bei Freiwurf steht unter dem Zeichen der Inklusion. Zusammen mit dem DHB hat Freiwurf deswegen ein angepasstes Regelwerk entwickelt, dass fortwährend auf diesen Gedanken hin überprüft wird. Sobald beispielsweise eine Person im Rollstuhl am Spiel teilnehmen will, wird situativ eine Rollstuhlzone eingerichtet.
Auf einem Drittel des Feldes ist dann nur das Fahren im Rollstuhl erlaubt. Das bedeutet, dass sich auch eine Person aus dem anderen Team in einen Rollstuhl setzen muss. Auch kann ein:e Spieler:in höchstens vier Tore pro Spiel werfen, damit vermeintlich schwächere Spieler auch Verantwortung übernehmen müssen.
Verantwortung übernimmt auch Stephanie Michels als Trainerin bei der SG Wilhelmsburg. Tobias gehört zu ihrer Trainingsgruppe. „Es hört sich hart an, wenn ich das Training mache“, sagt sie mit einem Lächeln. Die Spieler:innen witzeln, sie würde ihnen ordentlich „Feuer unter dem Hintern“ machen. Allgemein wird in der Halle viel gelacht.
Als sie angefangen habe, habe sie keine Berührung mit Menschen mit Behinderung gehabt. Angst vor dem ersten Training hatte sie nicht, aber Respekt: „Wir hatten keine Ausbildung, ein Inklusionsteam zu trainieren und es einfach probiert, sagt Michels. „Die jahrelange Erfahrung als Handballtrainier:in einer Nicht-Inklusionsmannschaft, hat uns dabei sehr geholfen.“
Zum Abschluss Siebenmeterwerfen
Koordination steht auch auf dem Trainingsplan. Zwei Bänke stehen hintereinander. Auf der ersten soll balanciert und der Ball auf den Boden geprellt werden. Auf der zweiten soll der Ball dann auf der Sitzfläche geprellt werden. Bente, die keine Behinderung hat, vertauscht die Aufgaben. „Das passiert allen“, sagt Michels „weiter gehts!“
Siebenmeterwerfen: Zum Abschluss der Einheit steigt die Spannung für alle. Tobias hebt die Arme, positioniert sich in der Mitte des Tores. Fabian, der Mitbewohner von Tobias tritt als Letzter an, bevor das Training vorbei ist. Er hat einen starken Wurf – eine gute Peitschenbewegung aus dem Unterarm. Die letzten beiden Würfe hat Tobias bereits pariert, nun also sein letzter Versuch.
Michels klatscht in die Hände, der Ball ist freigegeben. Fabian täuscht mit kurzen, abgehackten Bewegungen an, dann wirft er. Tobias macht einen Schritt nach links und pariert mit dem Körper. „Du bist ein Supermann“, ruft ein anderer Mitspieler. Tobias jedenfalls ist zufrieden: „Training macht immer Spaß“, sagt er.
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