Hamburger Schulreform: Sie wollen lernen
Heute trifft der schwarz-grüne Senat in Hamburg noch einmal wegen der Schulreform mit einer Bürgerinitiative zusammen - kommt ein Volksentscheid?
In Hamburg tobt ein Streit darüber, ob und wie die Stadt eine sechsjährige Grundschule einführen kann. Heute gibt es eine vermutlich letzte Verhandlungsrunde zwischen der schwarz-grünen Koalition und der Bürgerinitiative "Wir wollen lernen", die gegen die lange Grundschule mobil macht. Danach könnte es zu einer Volksabstimmung kommen - oder einem Kompromiss. Eine Gebrauchsanweisung für die sechsjährige Grundschule.
1. Was soll diese sechsjährige Grundschule?
Die Idee ist, weniger Kinder zurückzulassen. Denn die Rate an Bildungsverlierern ist in Hamburg besonders hoch. 28 Prozent der Hamburger Schüler sind laut Pisa Risikoschüler, die nicht sinnvoll lesen können. Abhilfe soll eine Schulreform schaffen - mit der sechsjährigen Grundschule als Kernstück. Man will die weltweit einmalig frühe Auslese von Zehnjährigen um zwei Jahre nach hinten schieben. Gleichzeitig sollen die neue Primarschulen pädagogisch stark aufgewertet werden. Ab der siebten Klasse soll es nur noch Gymnasien und Stadteilschulen geben - an beiden ist das Abitur möglich.
2. Wer ist für, wer gegen die Reform?
Die Primarschule ist auch eine gesellschaftliche Zerreißprobe. Gegen die Reform sind 184.000 Hamburger, die sich erfolgreich einen Volksentscheid im Juli herbeigestimmt haben. Das Spektrum dort reicht vom konservativem Bürgertum bis tief ins linksliberale und sozialdemokratische Lager. Für die Reform sind die Elternkammer, diverse Initiativen, die Leiter der Grundschulen selbst und, bis Anfang der Woche, auch die mächtige Handelskammer. Die wünscht nun einen Kompromiss: einen Schulversuch, bei dem zunächst nur 50 von 200 Grundschulen als Primarstufen starten.
3. Warum wird so erbittert gerungen?
Die frühe Auslese mit zehn Jahren ist wichtigstes Instrument und Symbol für die selektive Schule. Daher stehen sich im Kampf um die längere Primarschule mit anderer Förderphilosophie zwei völlig unterschiedliche Lernkulturen gegenüber: Hier das auf frühe Auslese zielende dreigliedrige Schulwesen - das "Ausdruck veralteten, ständischen Denkens ist" (Ole von Beust, CDU). Dort eine auf Förderung jedes einzelnen Schülers zielende Lernkultur. Eine Schule, die jeden Schüler mit einem Maximum an Kreativität und Lösungskompetenz ausstatten will und nicht - wie bisher - 20 Prozent der Hamburger bereits mit zehn Jahren als Risikoschüler aufgibt.
4. Gibt es wissenschaftliche Argumente für die sechsjährige Grundschule?
Eine Reihe von Studien stellen das Sechs-Jahres-Modell in ein positives Licht. Nach der Element-Studie von Rainer Lehmann sind die Lernzuwächse in der fünften und sechsten Klasse der Berliner Grundschule im Durchschnitt besser als in den gleichen Klassen des Gymnasiums. Das ist bemerkenswert, weil die Berliner Gymnasien eine elitäre Schicht von nur sieben Prozent des Jahrgangs unterrichten - und trotzdem weniger Leistungsgewinne erzielen als die 93-Prozent-Grundschulen. Zum Vergleich: Das wäre gerade so, als würde der FC Bayern mit einer kleinen Schar von Elitespielern schlechter abschneiden als die in der gleichen Liga antretenden Kneipenmannschaften. Der Pisa-Papst und Max-Planck-Direktor Jürgen Baumert stellte nach Analyse der Lehmann-Daten sogar das Gymnasium infrage - weil dort "in keinem Leistungsbereich Förderwirkungen nachweisbar sind".
5. Gibt es einen guten Kompromiss bei der Frage?
Nein, auch hier kann Hamburg von Berlin lernen, das ja beide Laufzeiten ermöglicht. Der vermeintliche Kompromiss trägt den Schulkampf in jede einzelne Klasse. Eltern und Kinder beginnen bereits ab Ende der dritten Klassen nachzudenken, ob sie vier oder sechs Jahre bleiben wollen - was sich verheerend auf die pädagogische Atmosphäre und die Praxis der Grundschulen aus wirkt. "Wir wollen lernen" setzt darauf, dass sich "im Wettbewerb" entscheiden solle, ob die vier- oder die sechsjährige Grundschule die bessere sei. Einen Wettbewerb von Gesetzesregelungen kennt der Rechtsstaat allerdings nicht: Gesetze gelten für alle Bürger gleich.
6. Was sind die bundespolitischen Effekte einer Volksabstimmung?
Deutschlands Schulreformer schauen gebannt nach Hamburg. Sollte eine Volksabstimmung über die sechsjährige Grundschule stattfinden, so wäre dies Auftakt einer grundsätzlichen Neuausrichtung der deutschen Lernphilosophie - oder ihr Ende. Kein Kultuspolitiker könnte das längere gemeinsame Lernen wieder anfassen, wenn das Volk eines Bundeslandes Nein dazu sagt.
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