Hamburger SV gegen Borussia Mönchengladbach: Bärbeißers Grimm
Der HSV beweist in Gladbach, dass er kein Spitzenteam ist, und taumelt rekordverdächtig schnell von der Tabellenführung in die Frühjahrskrise.
Borussia: Bailly - Stalteri, Gohouri (33. Brouwers), Daems, Levels - Galasek, Bradley - Matmour, Baumjohann, Marin (68. Neuville) - Friend (79. Colautti)
HSV: Rost - Boateng (85. Ndjeng), Alex Silva, Mathijsen, Aogo - Jarolim (71. Benjamin), Tavares - Trochowski (53. Pitroipa), Jansen - Petric, Olic
Zuschauer: 50.273
Tore: 1:0 Friend (24.), 1:1 Petric (29.), 2:1 Levels (42.), 3:1 Brouwers (54.), 4:1 Marin (65./Foulelfmeter)
Für Hamburgs Exborussen Marcell Jansen geriet der erste Besuch mit seinem neuen Klub in der Heimat zu einer Horrorrückkehr: "Bei uns hat gar nichts gestimmt. Das war ne Klatsche." HSV-Sportdirektor Dietmar Beiersdorfer wurde noch grundsätzlicher: "Unkonzentriert, lässig - wir sind bei der ersten kleinen Böe umgefallen." Fatal für Norddeutsche: "Das war unserer nicht würdig." Und Trainer Martin Jol, dessen Gesichtsausdruck von der gewohnten Bärbeißigkeit in aggressiven Grimm gewechselt war, sah alle "Chancen verschenkt", wobei unklar blieb, ob er schon die zum Titel meinte oder die an jenem Tag auf dem Platz.
Chancen hatte der HSV in der Anfangsphase, weil Gladbach "nervös, ohne jedes Selbstvertrauen" (Trainer Hans Meyer) herumstolperte. Jeder lange Pass auf Ivica Olic endete mit einem Torabschluss, weil Olic Wachhund Steve Gohouri lahmlendig Orientierungsläufe machte statt Gegnerbeschattung. Dann grätschte der Gohouri endlich einmal richtig - und zerrte sich dabei die Lenden. Eine Glücksverletzung. Denn Roel Brouwers kam und Borussias Defense stand. Der HSV, zwischen lässig und langweilig, von der schnöden Arroganz der Sorglosigkeit befallen (Mathijsen, Boateng), kassierte bald Tor auf Tor.
Ein einziges Spiel mit womöglich großer Weichenstellung: Erst haben die Hamburger zu Hause gegen Wolfsburg verloren, zwischendurch das Publikum im Pokalmatch gegen Wehen Wiesbaden gequält, und jetzt so ein Absturz. Innerhalb von sechs Tagen wurde aus der Tabellenführung eine Frühjahrskrise. Die Borussia dagegen ist aus den Trümmern ihrer selbst wiederaufgetaucht.
Vorher hatten sie in Mönchengladbach mutstiftende Rechnungen aufgemacht, wonach in den vergangenen zehn Jahren 40 Prozent aller Kellerplatzierten nach 22 Spieltagen noch die Kurve kriegten. Aber noch nie schaffte es jemand mit kümmerlichen 16 Punkten. "Wer nach 20 Minuten gesagt hätte, wir sind am Ende 4:1-Sieger", meinte Hans Meyer, "wäre für verrückt erklärt worden." Vorher, so der Trainerveteran, habe einen die Tabelle "trübsinnig machen können. Jetzt ist der Moment gekommen, wo wir uns wieder berechtigte Hoffnung machen können."
Auffallenderweise überragten genau diejenigen Borussen, die im Verlauf der Saison massiv geschwächelt haben und viele persönliche Bankkrisen abzusitzen hatten. Oder die gleich als eigentlich erstligauntauglich erklärt wurden, weshalb man für sie Ersatz und Back-ups in Großhandelsmengen anschaffte. Direkt vom Klo auf den Platz gekommen war der magendarmmalade Marko Marin (gerüchteweise ab Sommer in Hamburg), der endlich mal wieder keck brillierte, auch defensiv gegen die pomadigen blau gewandeten Rothosen gut sicherte und an drei Treffern feinfüßig tatbeteiligt war. Mittelstürmer Rob Friend traf erstmals seit gefühlt 1913, dazu (wenn auch aus Abseitsposition) jener Brouwers, als Stopper eigentlich fünfte Wahl. Sogar Grätschknecht Tobias Levels, der sechste in dieser Saison getestete Linksverteidiger, durfte toren, erstmalig in seinem Bundesligaleben und dann auch noch zirkusreif im Rückwärtsflug ins Toraus. Das Gefühl danach? "Wie eine Hormonausschüttung."
Die Wiedergeburt der Aufstiegshelden kommentiert auf subtile Weise die kopflose Personalpolitik (32 bislang eingesetzte Saisonspieler) im niederrheinischen Kaufhaus des Westens. Aber schon nach 65 Minuten, als das Endergebnis feststand, wandten sich die Fans der Zukunft zu. Die heißt am nächsten Samstag Köln. Und so begannen sie, mit Inbrunst das komplette Programm an Schmäh- und Hassgesängen auf den Lieblingsfeind abzusingen. Unter anderem wurde ein brennendes Gotteshaus (Dom) prophezeit und sogar die Vernichtung einer Großstadt ("Köln zerreißen"). Mit dem Abpfiff zum Heimsieg, dem vierten erst, skandierte die Nordtribüne lauthals und zunächst verwirrend "Auswärtssieg! Auswärtssieg!"
Und als der Shuttlebus zum Bahnhof kurz stockte, wurde es endgültig geschmacklos: "Warum", brüllte einer durch den überfüllten Bus, "haben wir hier eigentlich nicht so ne schöne U-Bahn wie in Köln?"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung