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Hamburger Ausstellung von Gilbert and GeorgeKonservative Anarchisten

Die Hamburger Deichtorhallen zeigen weite Teile der "Jack Freak Pictures" des britischen Künstler- und Ehepaars Gilbert and George.

Betrachten alles, was sie tun, als Kunst: Gilbert and George. Bild: Deichtorhallen Hamburg/Fred Dott

HAMBURG taz | Es ist ein überwältigendes Bildermeer, das die große Deichtorhalle in Hamburg zu einer Künstlerweihestätte werden lässt: Fast sakral feiern 120 große Fotobilder da ein Künstlerpaar, das sich selbst zu einem ornamentalen Zeichensystem gemacht hat: Gilbert & George.

Die Londoner Künstler, zusammen inzwischen 135 Jahre alt, hatten einst aus dem Bildhauerstudium die Lehre gezogen, selbst lebende Skulpturen sein zu wollen. Seither betrachten sie Gehen und Stehen, Singen und Tanzen, Trinken und Schlafen - eben alles, was sie tun - als Kunst.

Über ihre persönliche Anwesenheit hinaus sind Film und vor allem Fotos ihr Medium, fotografische Montagen, in denen sie selbst unterschiedlich präsent auftauchen. Seit 2004 verwenden Gilbert & George für ihre Fotoarbeiten nur noch Computer.

Und als ob es um die verwerflichen Spätfolgen ginge, wenn Kinder zu oft durchs bunte Kaleidoskop gucken, werden ihre metergroßen, zu Themenkomplexen zusammengefassten Bildkompositionen immer fragmentarischer und ornamentaler.

Die derzeit letzte abgeschlossene Serie ist "Jack Freak Pictures" aus dem Jahr 2008. Und von deren insgesamt 153, unverkennbar britischen Bildern zeigen die Deichtorhallen mehr als drei Viertel - raumfüllend.

Seit über 40 Jahren leben Gilbert & George zusammen in Spitalfields im Londoner East End. Inzwischen haben sie das einst marode georgianische Reihenhaus gekauft, in das sie noch als Kunststudenten eingezogen waren. Sie haben es vollständig und historisch korrekt renovieren lassen und mit ihren Sammlungen zur englischen "Arts and Crafts"-Bewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts ausgestattet.

Dort, wo sie wohnen, liegt für sie das Zentrum der Welt, nicht nur im übertragenen Sinne: Im East End der einstigen Hauptstadt sind Menschen und Dinge des vergangenen britischen Empire zu finden. Und die tausenden von Fotos, die den jetzt in Hamburg gezeigten großen Bildmontagen zugrunde liegen, sind meist sehr direkt in dieser vielschichtigen Gegend aufgenommen: Für die Serie "Jack Freak Pictures" fütterten Gilbert & George ihre Bildcomputer mit Straßenecken, Graffiti und Bäumen aus der Nachbarschaft und ergänzten das mit Stadtplanausschnitten und historischen Ehrenmedaillen - und natürlich den Selbstinszenierungen.

Die dabei fotografisch gewonnenen Bildelemente werden symmetrisch gespiegelt, zu Kreisen gemorpht oder kaleidoskopartig zusammengesetzt. Und in Farbe und Form immer wieder auf den Union Jack bezogen, die britische Flagge.

Dieser kommt dabei keine nationale Verehrung mehr zu, andererseits aber auch keine ausdrückliche Gegnerschaft. Aber ihre Grundform, die taugt für die kreuzförmige Organisation der Linien in den Bildern, die ihrerseits aus bis zu 28 Einzelfeldern zusammengesetzt sind wie Kirchenfenster.

In der persönlichen Ornamentik von Gilbert & George ergibt sich so auch eine Reverenz auf die alte Inhaltlichkeit der Flagge als Symbol für die zusammengefügten Teile des Reichs. Alle Ornamente wollen ja Ordnung schaffen, den Überblick vereinfachen.

Kreuze und Fluchtlinien und Symmetrien sollen auf eine Idee fokussieren, auf eine Person oder zumindest eine soziale Einheit. In der hier gezeigten monströsen Vielfalt allerdings stellt sich eher die Frage, ob der allgemein anzutreffende Irrsinn überhaupt noch zentrierbar ist.

Bei den vorwiegend gewählten heraldischen Farben Rot, Weiß und Blau und der oft zitierten Dreifachkreuzstruktur lässt sich eine grundsätzlich mitschwingende Britishness nicht vermeiden. Die Nationalflagge wird geradezu totzitiert und sinngeleert - und bleibt doch so beiläufig nationalistisch wie ein flaggenfarbener Teebecher.

Auch wenn Gilbert & George stets betonen, wie sehr sie gegen staatliche und religiöse Vorschriften sind, wie sehr ihnen die individuelle Freiheit am Herzen liegt: Von Ihren Kritikern wurden sie, in Verwechslung von Zitat und Position, auch schon einmal "homosexuelle Faschisten" genannt. Sie selbst beschreiben sich dagegen als "konservative Anarchisten", die zwar gerne Grenzen berühren, aber nicht überschreiten. Und inzwischen offiziell miteinander verheiratet sind.

Aber provokant, wie viele sagen, ist das alles nun nicht mehr: Keine Bilder mehr mit eigenem Blut, Kot, Urin und weiteren Körperflüssigkeiten. Keine der Zensur abgetrotzten Ausstellungen mehr, wie noch 1990 in Moskau oder 1993 in Beijing. Bei allem Hochglanz-Pop: Diese Revolution ist etwas staubig geworden, die Bilder wirken so werbe-provokant wie der Schriftzug "Kokain" auf einer Zuckertüte.

Sicher: Das ganze Pathos wird in der Übertreibung auch gebrochen. Aber lieben wir nicht gerade an der britischen Kultur - jenseits von Punk - vor allem ihren eher subtilen Sinn für Ironie? Die hier gezeigte Bilderschlacht lässt jene feine, durchaus zweideutige Zurückhaltung vermissen, die Gilbert & George privat immer noch pflegen.

So wirkt denn diese glasfensterbunte Weihestätte für das Künstlerpaar trotz ihrer hundertfachen Anwesenheit in den Bildern ohne sie persönlich doch etwas leer. Bestenfalls ist zu lernen, Zweisamkeit sei besser als Einsamkeit und müde tanzende Ratlosigkeit besser als falsche, hochmütige Gewissheit in Dingen des Glaubens an Gott und Staat. Das ist ja durchaus etwas.

Wer aber wissen mag, woher hinter all der bunten heutigen Konfusion der alte Ruhm von Gilbert & George kommt, sollte sich unbedingt 104 Minuten Zeit nehmen und in den Nebenraum gehen wo der Film "With Gilbert & George" gezeigt wird: Von den bahnbrechenden "Singing Sculptures" von 1969/70 über die Fotoarbeiten mit ihren sozialen und politischen Ansprüchen und Irrtümern bis zur großen Retrospektive in der Londoner Tate Modern 2007 kann darin Regisseur Julian Cole, der einst selbst Modell für die beiden stand, diese besondere Welt privat und künstlerisch hervorragend verständlich machen.

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