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berliner szenenHallo, kennt ihr den Mars?

Neulich war totale Mondfinsternis. Das nächste Mal taucht der Trabant erst in über hundert Jahren wieder in den Erdschatten ein. Also wo im Wedding haben wir freien Blick auf das Jahrhundertspektakel? „Der Flakturm im Humboldthain!“ Auf der Treppe zur Plattform verteidigten Wespen ihr Nest wehrhaft gegen die trampelnde Besucherherde „Aua! Hat jemand ’ne Zwiebel?“ Oben saßen mindestens vierzig junge Leute auf dem Steinboden. „Ntz, ntz, ntz“ – jemand hatte eine Soundbox dabei. Sektflaschen und Dosenbier gingen rum, Partystimmung. Wir fanden ein Plätzchen, und ich hielt mir eine kalte Bierflasche an den Knöchel mit dem Stich.

Auf der Aussichtsplattform waren alle gut drauf, tranken, quatschten und guckten nach Norden. „Sind wir hier richtig?“ Auch zwei Amerikaner diskutierten über Himmelsrichtungen. „Lass uns weiter, der Mond geht in Südosten auf!“. Die Bösebrücke in Prenzlauer Berg ist nur einen Katzensprung vom Wedding entfernt. „Der Mars ist der Erde so nah wie seit fünfzehn Jahren nicht mehr!“, dozierte ein Mann Mitte vierzig. „Da, unter dem Mond ist er, auch rot.“ Der Mann maß mit den Fingern das Firmament ab. Keiner beachtete ihn. Wir hatten einen tollen Blick auf den kupferroten Mond. Ein Berliner Anfang sechzig fotografierte mit seiner Spiegelreflexkamera den Nachthimmel, ein angeschraubter Mülleimer im Arm sorgte für Stabilität. „Also irgendwie krieg ick dit nich verfünftich.“ Seine Begleiterin hatte ihre Kamera auf einem Stativ. „Sieht doch gut aus.“ Der Dozent redete immer noch über den Mars: „Unten rechts vom Mond, der orange Punkt! Einmalige Konstellation!“. Zwei junge Frauen beobachteten den roten Mond und unterhielten sich angeregt über den weiteren Abend. Der Dozent lächelte sie verführerisch an „Hallo, kennt ihr den Mars?“ Natalie Stoeterau

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