: Halbzeit in der Halbstadt
■ Die ersten 100 Tage von Magistrat und Magi-Senat
KOMMENTAR
Wenn eines in der gestrigen Halbzeitbilanz von Tino Schwierzina deutlich wurde, dann das: Die Rechnung aus 100 Tagen Magistrat kann schon längst nicht mehr ohne die andere Stadtregierung, Amtssitz Schöneberg, aufgemacht werden. Umgekehrt gilt das mittlerweile auch. Es ist inzwischen unmöglich geworden, Probleme der Wohnungs-, Verkehrs- oder Stadtplanungspolitik im Alleingang zu lösen, weil die „anderen“ automatisch mitbetroffen sind. Eine originär „eigene“ Politik wird in Ost-Berlin eigentlich nur noch vom Innenstadtrat Thomas Krüger betrieben, dessen Ressort man mittlerweile in Amt für Vergangenheitsbewältigung und Skandalenthüllungen umtaufen könnte. Fast jede Woche schockiert der gelernte Theologe die Öffentlichkeit mit Offenbarungen über Filz und Korruption, setzt sich dabei nicht selten in die Diestel(n). Ganz anders als der DDR -Innenminister hat Krüger in seiner Verwaltung mit der Stasi aufgeräumt und setzt in der politischen Diskussion nicht auf billige Effekte, sondern auf echte Auseinandersetzung - das hat nicht zuletzt die von ihm forcierte „Aktion Besen“ bewiesen. Krüger, das steht schon jetzt fest, wird die Einheit politisch überleben und im Falle eines SPD -Wahlsieges Regierungspolitiker bleiben.
Auch Schwierzina, der kleine Bruder vom großen Momper, hat an Profil gewonnen. Sein Job ist zweifelsohne der undankbarste im ganzen Kabinett. Zum einen mußte er zu Beginn der Regierungsperiode laufend die Scherben einsammeln, die auch Leute aus der eigenen Partei im Porzellanladen Rotes Rathaus angerichtet hatten. Andere mißverstanden das neue Terrain in Ost-Berlin als verfassungsmäßiges Testfeld, als sie ihm Westberliner SenatorInnen in seinem Kabinett zur Seite stellen wollten. Auch diesen Schlamassel mußte er ausbaden; für die Anstifter aus Schöneberg war das nur eine Trockenübung. Schwierzinas Stärke besteht in der Fähigkeit zur Schadensbegrenzung, zur Moderation. Härte zeigt der Mann, der am Tage seiner Inthronisierung eher deprimiert dreinblickte, sehr selten. Eines seiner größten Kunststücke: Er hat sich trotz seiner schwarz-roten Ostberliner Regierung von der konservativen Presse und dem rechten Parteiflügel insbesondere im Westen nicht zum Kronzeugen einer künftigen großen Koalition in Berlin machen lassen. Auf die Verweigerungshaltung des Bündnisses 90, das er in die Regierung hieven wollte, hat er nicht beleidigt reagiert, sondern die Bürgerbewegungen in die Verfassungsdiskussion miteinbezogen.
In puncto Kulturpolitik hat sich in Ost-Berlin leider eine ähnliche Null-Lösung entwickelt wie in West-Berlin: Sie findet öffentlich gar nicht statt. Wenn doch, dann haben das andere bewirkt - wie beispielsweise bei der Ausstellung „Die Endlichkeit der Freiheit“, mit der die Ostberliner Kulturstadträtin partout nichts zu tun haben wollte. Daß Sozialdemokraten zum Thema Kultur meist nur Volkstanz und Gitarre einfällt, ist bekannt. Hier hätte der Koalitionspartner CDU deshalb eine Chance gehabt: Volker Hassemer, zur Zeit Berater im DDR-Kulturministerium, wäre für diesen Job sicherlich zu haben gewesen, alleine deshalb, um die blasse Martini grün vor Neid werden zu lassen. So bleibt zu den Christdemokraten im Kabinett Schwierzina, die sich selbst den Stellvertreterposten des Stadtoberhauptes haben abjagen lassen, bisher nur folgendes festzustellen: alles getarnte Sozialdemokraten.
CC Malzahn Siehe auch Artikel auf Seite 6
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